Kapitel 3 — Die Jägerin im Zwielicht
Ehemalige beste Freundin
Freya kniff die Augen zusammen und ließ ihren durchdringenden Blick über die Spuren auf dem Waldboden gleiten. Die Fährte war frisch, die Abdrücke in der feuchten Erde noch scharf umrissen. Ein Hauch von Triumph blitzte in ihren eisblauen Augen auf, doch er wurde schnell von der Kälte ihres Ausdrucks überlagert. Sie richtete sich auf, strich sich eine widerspenstige, blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und zog den Umhang enger um ihre Schultern. Die Kälte der Nacht war tief in ihre Knochen gekrochen, doch es war nicht die Kälte, die sie antrieb. Es war Liv.
"Sie ist nah," sagte sie, mehr zu sich selbst als zu den Jägern, die hinter ihr standen. Ihre Stimme war ruhig, aber scharf wie eine Schneide, die keine Widersprüche duldete. "Wir dürfen uns keinen Fehler leisten. Sie kennt diesen Wald besser als jeder von uns."
"Das stimmt, aber sie ist allein," murmelte einer der Männer, ein älterer Krieger mit einem misstrauischen Blick. "Dieser Wald ... fühlt sich falsch an. Als ob er uns beobachtet."
Freya drehte sich zu ihm um, ihre Augen funkelten im schwachen Licht des Mondes. "Dann beobachtet er. Dieser Wald steht auf ihrer Seite. Aber das wird uns nicht aufhalten." Ihre Stimme ließ keinen Raum für Zweifel. "Ihr wisst, warum wir hier sind. Liv Hagen ist eine Bedrohung. Ich brauche Männer, die sich nicht von ein paar Schatten einschüchtern lassen."
Die Männer – erfahrene Krieger des Rudels, die sie selbst ausgewählt hatte – nickten. Einer zog seine Axt aus dem Gürtel, ein anderer überprüfte die scharfen Zähne seines Dolches. Sie alle wussten, was auf dem Spiel stand. Liv Hagen war nicht nur eine Geächtete; sie war ein Symbol für Verrat. Freya spürte, wie sich ihre Brust bei dem Gedanken zusammenzog. Verrat. Ein Wort, das sie wie Gift in sich trug, das jeden Gedanken an die Vergangenheit vergiftete.
Gedanken an das Mädchen, das sie einst als Schwester gesehen hatte.
Freya schüttelte den Kopf, als würde sie eine lästige Mücke vertreiben. Gefühle hatten keinen Platz in dieser Jagd. Liv war eine Gefahr, für das Rudel und für Freya selbst. Je länger sie lebte, umso mehr drohte die Wahrheit, die Freya unter einer Schicht aus Hass und Zorn begraben hatte, ans Licht zu kommen. Und das durfte nicht geschehen.
"Wir brechen auf," befahl sie, ihre Stimme hart und unnachgiebig. "Haltet die Augen offen. Sie wird versuchen, uns in die Irre zu führen. Bleibt wachsam."
Die Männer nickten erneut und folgten ihr, während sie die Spur aufnahmen. Freya kniete gelegentlich nieder, um die Abdrücke zu prüfen, den Geruch der Luft zu kosten. Sie war eine Jägerin, und der Schwarzwald war ihr vertrauter Freund und Feind zugleich. Doch je tiefer sie und ihre Männer in das Dickicht vordrangen, desto deutlicher spürte Freya, dass der Wald selbst auf Livs Seite zu stehen schien. Die Schatten schienen dichter, die Geräusche gedämpfter, als ob der Wald ihre Anwesenheit widerstrebend duldete. Ein leiser Windstoß ließ die Äste über ihnen knarren, und für einen Moment konnte Freya schwören, dass die Bewegung wie ein warnendes Flüstern klang.
Freya hielt inne und hob die Hand, um ihre Begleiter zur Ruhe zu mahnen. Sie lauschte, ihre scharfen Sinne auf jede noch so kleine Bewegung eingestellt. Doch es war nicht der Wald, der ihre Gedanken übernahm. Es war die Erinnerung.
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Freya erinnerte sich an die Nächte, die sie und Liv verbracht hatten, als sie noch Kinder waren. Sie hatten sich oft heimlich aus den Hütten des Rudels geschlichen und sich an den Rand des Lagers gesetzt, fernab von den wachsamen Augen der Erwachsenen. Sie hatten die Sterne beobachtet und von einer Zukunft geträumt, in der sie Seite an Seite das Rudel anführen würden – Liv als Heilerin, Freya als Kriegerin. Liv hatte immer geglaubt, dass Freya zu Größerem bestimmt war, hatte sie angestachelt, an ihrer eigenen Stärke zu glauben.
"Du bist wie der Mond," hatte Liv einmal gesagt, ihre smaragdgrünen Augen funkelnd im Schein des Lagerfeuers. "Stark, ruhig, aber voller Macht. Ich wünschte, ich könnte das auch sein."
Freya hatte gelacht, doch tief in ihrem Inneren hatte ein leises Nagen begonnen. Liv war die Hoffnungsträgerin des Clans, diejenige mit der Gabe, die alle bewunderten. Freya war nur ihre Schattenwölfin, die Kämpferin, die zusah, wie Liv zum Zentrum aller Hoffnungen wurde. Und als der Alpha starb, als Livs Vision zu spät kam, war es Freya gewesen, die ihre Zweifel in Worte gekleidet hatte. Ein Teil von ihr hatte gewusst, dass es falsch war, Liv zu beschuldigen. Doch ein anderer Teil – der Teil, der sich so lange nach Anerkennung gesehnt hatte – hatte die Gelegenheit ergriffen, Liv aus dem Zentrum zu stoßen.
Und jetzt jagte sie sie.
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"Freya?" Die Stimme eines ihrer Männer holte sie in die Gegenwart zurück. Sie nickte knapp, ihre Maske aus Härte wieder an Ort und Stelle.
"Was?" fragte sie knapp, ihre Augen weiterhin auf die Spur gerichtet.
"Wir sind nah. Sie hat uns bemerkt. Sie läuft."
Freya lächelte kalt. "Gut. Dann machen wir ihr klar, dass sie keine Chance hat."
Die Männer setzten sich in Bewegung, schneller jetzt, ihre Schritte leiser, tödlicher. Freya spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, die Jagd in ihrem Blut erwachte. Es war keine Freude, die sie fühlte, sondern eine dunkle Genugtuung. Wenn sie Liv finden und vor das Rudel führen konnte, würde sie ihre eigene Position sichern. Sie würde beweisen, dass sie keine Schattenwölfin war, sondern die wahre Kriegerin, die das Rudel verdiente.
Doch tief in ihrem Inneren, in einem Teil ihres Herzens, den sie nicht mehr hören wollte, flüsterte eine andere Stimme. Was, wenn Liv unschuldig war? Was, wenn alles, was sie getan hatte, nur der Versuch gewesen war, das Rudel zu retten? Was, wenn Freya selbst sich in ihrem Hass verloren hatte?
Freya schob den Gedanken beiseite und zwang sich, sich auf die Jagd zu konzentrieren. Sie würde Liv finden. Und dann – dann würde sie entscheiden, was mit ihr geschah.
Als sie sich weiter durch den Wald bewegten, bemerkte sie die Stille, die sie umgab. Es war nicht die natürliche Ruhe des Waldes, sondern etwas Tieferes. Eine Stille, die wie eine Warnung erschien. Ein Ast brach leise hinter ihnen, ließ die Männer kurz innehalten und sich gegenseitig besorgt ansehen. Freya ignorierte ihren eigenen Hauch von Nervosität und deutete stumm an, weiterzugehen. Doch innerlich konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass der Wald sie nicht nur beobachtete, sondern etwas vor ihnen verbarg.
Und plötzlich wusste Freya, dass sie Liv näher war, als sie es gewollt hatte.
Die Jagd war noch nicht vorbei, aber die Spannung in der Luft ließ Freya spüren, dass sie auf etwas zusteuerten – etwas, das mehr als nur eine Gefangennahme bedeuten würde.
Etwas, das ihre Entscheidungen für immer verändern würde.