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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Verloren im Schatten


Liv Hagen

Die Kälte des Morgens kroch durch die Ritzen der kleinen Hütte, als Liv aus einem unruhigen Schlaf aufschreckte. Ihr Atem ging stoßweise, und der Geschmack von Angst lag wie Kupfer auf ihrer Zunge. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während die Schatten der letzten Nacht in ihren Gedanken widerhallten. Der Schrei des Alphas, das Blut auf dem Schnee, die Augen Freyas, die vor Hass und Anklage glühten – all das war noch immer so lebendig, als wäre es erst gestern geschehen. Doch die Wahrheit war, dass Jahre vergangen waren, seit sie aus dem Rudel verstoßen worden war.

Livs Hände zitterten, als sie das dünne Tuch zur Seite warf, das ihre Schlafstätte bedeckte. Sie setzte sich auf die Bettkante und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Der vertraute Duft von getrocknetem Lavendel und Harz, der den Raum erfüllte, brachte ihr einen kurzen Moment der Ruhe. Doch selbst dieser Hauch von Trost wurde von der nagenden Unruhe in ihr übertönt.

Im knarrenden Holz der Hütte schien etwas zu lauern, ein Echo ihrer inneren Zerrissenheit. Draußen knisterten Äste, ein Geräusch, das der Wind mit sich trug, doch heute schien es anders zu klingen – fremder, aufmerksamer.

Die Wälder hatten ihre Zuflucht, ihre Heimat und ihr Gefängnis zugleich geworden. Hier, verborgen vor den Augen des Nordclans und anderer Clans, lebte sie in der Isolation, die sie mit jedem Tag ein Stück mehr aushöhlte. Sie hatte sich eine Existenz aufgebaut, die von der Wildnis geprägt war. Ihre Hütte lag tief im Dickicht, zwischen hohen, knorrigen Bäumen, deren Äste wie beschützende Arme über sie wachten. Das Dach war mit Moos bedeckt, die Wände aus grob behauenem Holz, und ein kleiner, steinerner Kamin sorgte für Wärme an den kältesten Tagen.

Liv zwang sich aufzustehen, zog ihren abgenutzten Mantel über und griff nach einem kleinen Korb, der an einem Haken nahe der Tür hing. Es war Zeit, ihre Vorräte aufzufüllen. Heilpflanzen, Pilze und Beeren – die Gaben der Natur waren ihre Lebensgrundlage. Der Schwarzwald war ebenso gnädig wie grausam, ein Ort voller Gefahren und doch reich an Leben.

Sie trat hinaus in die klare, kalte Luft, die nach Erde und feuchtem Laub roch. Ihr Blick glitt über den dichten Wald um sie herum, die hohen Bäume, die den Himmel fast vollständig verdeckten. Hier draußen war sie allein, und das war sowohl Trost als auch Bürde. Die Einsamkeit schien manchmal wie ein Mantel aus Blei auf ihren Schultern zu lasten. Doch sie hatte gelernt, sie zu ertragen – denn was war die Alternative? Zurückkehren? Sich erneut dem Urteil des Rudels stellen?

Liv schüttelte den Kopf und zwang sich, den Gedanken abzuschütteln. Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren. Mit geübten Bewegungen durchkämmte sie das Unterholz, suchte nach den vertrauten Formen und Düften der Pflanzen, die sie benötigte. Ihre Finger streiften über das weiche Moos, zupften Blätter ab, prüften die Stängel auf ihre Frische. Während sie arbeitete, spürte sie eine Verbindung zu den Pflanzen, ein sanftes Flüstern in ihrem Innern, das sie zu den stärksten und frischesten Trieben führte. Es war eine Gabe, die ihr Trost spendete, auch wenn sie sie gleichzeitig an den Fluch erinnerte, der auf ihr lastete.

Doch heute war etwas anders. Ein seltsames Gefühl von Unruhe nagte an ihr, ließ sie immer wieder aufblicken und die Umgebung absuchen. Die Vögel waren verstummt, und der Wald wirkte seltsam still – zu still. Livs Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, als sie inne hielt und lauschte. War da etwas? Ein leises Rascheln, das nicht zum Wind passte? Das Knacken eines Zweiges, zu laut, um von einem Tier zu stammen?

Sie richtete sich auf, ihre smaragdgrünen Augen verengten sich, als sie eine Spur entdeckte – eine Reihe von Fußabdrücken, kaum sichtbar auf dem weichen Waldboden. Sie waren frisch, und ihr Muster war eindeutig. Wer auch immer hier gewesen war, er konnte nicht weit entfernt sein. Die Abdrücke waren tiefer, als es ein einzelner Mensch hinterlassen hätte, und ein feiner Geruch von Leder und Schweiß stieg ihr in die Nase.

Livs Atem stockte. Das Rudel hatte sie gefunden. Oder waren es Fremde? Vielleicht Jäger, die es auf einsame Verstoßene wie sie abgesehen hatten? Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf, und Panik drohte, die Oberhand zu gewinnen.

„Bleib ruhig“, flüsterte sie zu sich selbst, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Denk nach, Liv.“

Sie schloss die Augen, zwang sich, tief durchzuatmen, und drängte die Panik zurück. Sie konnte nicht riskieren, entdeckt zu werden. Nicht hier, nicht in ihrer Zuflucht.

Vorsichtig zog sie sich zurück zur Hütte, ihre Schritte leise und vorsichtig. Das gedämpfte Knirschen des Waldbodens unter ihren Füßen schien lauter als sonst. Als sie die schmale Tür der Hütte erreichte, schlüpfte sie hinein und schob den Riegel vor. Ihre Hände zitterten, als sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpackte: ein kleines Bündel Kleidung, einige Werkzeuge, das Tagebuch ihres Clans. Alles, was sie brauchte, um erneut zu fliehen.

Ihr Blick fiel auf den Schal, der sorgfältig über einem Stuhl drapiert war. Die Farben waren inzwischen verblasst, das Gewebe abgenutzt, doch er war das Einzige, was ihr von ihrer Mutter geblieben war. Zögernd nahm sie ihn in die Hände. Er fühlte sich weich und vertraut an, und für einen Moment schloss sie die Augen, ließ die Erinnerung zu.

Ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass der Wald eine Seele hatte, dass er seine Kinder beschützte, solange sie ihn respektierten. Diese Worte hatten Liv einst Trost gespendet. Jetzt schienen sie eine brüchige Hoffnung zu sein, etwas, an das sie sich in ihrer Verzweiflung klammerte.

„Ich werde nicht aufgeben“, murmelte sie leise, ihre Stimme fest, obwohl ihre Augen brannten. „Ich bin stärker als das. Ich werde kämpfen, wenn es sein muss – aber ich werde nicht wieder weglaufen.“

Ein letztes Mal blickte sie sich in der Hütte um, ihrem einzigen sicheren Ort. Dann hob sie den Riegel der Tür, trat hinaus in den Wald und verschwand zwischen den Bäumen. Die Schatten umgaben sie, kühl und still, während sie sich tiefer in die Wildnis wagte. Jeder Schritt war ein Schritt ins Ungewisse, doch sie wusste, dass Stillstand keine Option war.

Hinter ihr, verborgen zwischen den Bäumen, blieben die Spuren fremder Schritte. Der Wald war still – zu still. Und dann, in der Ferne, kaum hörbar, erklang das leise Heulen eines Wolfs. Livs Herz zog sich zusammen, eine Mischung aus Furcht und Entschlossenheit. Sie war nicht allein – und das bedeutete, dass ihre Flucht gerade erst begonnen hatte.