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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterDer Ruf des Waldes


Alina

Die Nacht war zu still. Eine bedrückende Stille, die selbst die vertrauten Laute der Dunkelheit verschluckte. Alina saß auf der schmalen Fensterbank ihres kleinen Zimmers, den Kopf an die kalte, von feinem Tau bedeckte Scheibe gelehnt. Der Mond hing groß und bleich am Himmel, ein trübes Auge, das über die Schatten der Wälder wachte. Draußen tanzten Nebelfetzen zwischen den Bäumen wie lebendige Wesen, und das leise Rascheln von Laub klang mehr nach einem Flüstern, als es der Wind verursacht haben konnte.

Sie schloss die Augen, doch die Bilder aus ihren Träumen waren auch in der Dunkelheit präsent – so klar, dass sie sich beinahe sicher war, die Kälte des Steins unter ihren Händen gespürt zu haben. Zum dritten Mal in dieser Woche hatte sie denselben Traum gehabt. Ein Altar, uralt und bedeckt mit geheimnisvollen Runen, stand inmitten einer dämmernden Lichtung. Die Bäume drumherum reckten ihre Äste wie Finger, die nach ihr griffen. Die Luft vibrierte von einem Summen, das ihre Haut kribbeln ließ. Und dann diese Stimme – leise, eindringlich, wie ein fernes Echo, das sich in ihre Gedanken schlich. Sie verstand die Worte nicht, doch die Botschaft war unmissverständlich: Geh. Komm zu mir.

Alina zog die Knie an ihre Brust und schlang ihre Arme darum. Die Kälte, die sie spürte, kam nicht von draußen – sie war in ihr, schleichend, fremd. Ihre Mutter hatte sie immer wieder gewarnt. "Halte dich vom Wald fern, Alina. Dort lauert nichts als Unglück." Doch was, wenn das Unglück nicht im Wald lauerte, sondern in ihr? Was, wenn die Schatten, die sie umgaben, aus ihrem Inneren kamen und sie riefen?

Ein leises Knarren ließ sie zusammenzucken. Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich, und ihre Mutter trat ein. Sie war hochgewachsen, ihre Gestalt in den Schatten des Raumes gehüllt, ein Schal locker um die Schultern gelegt, obwohl es drinnen warm war. Ihr Gesicht war streng, doch die feinen Linien um ihren Mund und die Falte zwischen den Brauen verrieten die Sorge, die sie hinter ihrer Fassade zu verstecken versuchte.

"Du hast wieder nicht geschlafen," stellte sie fest. Es war keine Frage, sondern ein Vorwurf, gemischt mit Resignation.

Alina antwortete nicht sofort. Stattdessen ließ sie ihren Blick hinausgleiten, dorthin, wo die Dunkelheit des Waldes begann. "Warum willst du nicht, dass ich in den Wald gehe?" Ihre Stimme zitterte kaum merklich. "Was versteckst du vor mir?"

Das Gesicht ihrer Mutter blieb unbewegt, doch ihre Finger umklammerten den Schal fester. "Was ich dir verborgen halte, ist nur zu deinem Schutz." Sie schloss die Tür hinter sich und trat näher. "Der Wald hat seine eigenen Regeln, Alina. Er nimmt sich, was er will. Es ist besser, ihn nicht herauszufordern."

"Das ist keine Antwort." Alina drehte sich zu ihrer Mutter um, ihre Stimme schärfer als beabsichtigt. "Ich träume von Dingen, die ich nicht verstehe. Vom Wald, von einem Altar, von..." Sie stockte, suchte nach Worten, die das seltsame Ziehen in ihr beschreiben konnten. "Runen. Und ich fühle –" Ihre Stimme brach ab, aber die unausgesprochenen Worte hingen schwer im Raum.

Ihre Mutter musterte sie, und für einen Augenblick schien es, als wollte sie etwas sagen, doch sie schwieg. Schließlich entwich ihr nur ein leises Seufzen. "Du fühlst zu viel, Alina. Genau deshalb habe ich dich gewarnt." Sie trat einen Schritt näher, unsicher, ob sie ihre Tochter trösten oder abschrecken wollte. "Du bist nicht wie andere. Das weißt du doch. Du warst immer... empfänglicher. Diese Träume sind gefährlich. Sie sind ein Lockruf. Widersteh ihnen, egal was passiert."

Alinas Kiefer spannte sich. Sie wollte schreien, wollte Antworten erzwingen, aber stattdessen richtete sie ihren Blick wieder hinaus in die Dunkelheit. "Was, wenn ich das nicht kann?" flüsterte sie schließlich.

Das Schweigen ihrer Mutter war Antwort genug.

***

Als der Morgen graue Finger durch die Wolkendecke streckte, konnte Alina es nicht länger ertragen. Während ihre Mutter in der Küche hantierte, zog sie ihren Umhang über die Schultern, band ihre Stiefel fest und schlich sich hinaus. Die kühle Luft biss ihr ins Gesicht, und der vertraute Geruch von feuchtem Moos und Kiefern umhüllte sie. Jeder Schritt zum Waldrand fühlte sich an, als würde sie eine Grenze überschreiten, die nicht mehr rückgängig zu machen war.

Die Dorfbewohner warfen ihr ihre üblichen Blicke zu – misstrauisch, abweisend. Alina war daran gewöhnt. Sie war die mit den unheimlichen Augen, die Tochter der seltsamen Frau. Diejenige, die nie in die Kapelle ging, die keine Freunde hatte, die immer allein war. Die flüsternden Stimmen der Dorfbewohner glitten an ihr ab wie Regentropfen, und sie hielt ihren Blick fest auf die Bäume gerichtet, die vor ihr aufragten.

Die ersten Schritte in den Wald waren wie ein Eintauchen in eine andere Welt. Die Luft war schwer, schien beinahe zu pulsieren, und ihr Atem wurde flach. Die Bäume standen wie stumme Wächter, ihre Äste wie Netze verflochten, um Eindringlinge zu fangen. Alina hielt inne, ihr Herz schlug heftig. Ein Zittern durchlief sie, doch die gleiche unbestimmbare Kraft, die sie in ihren Träumen gerufen hatte, trieb sie jetzt vorwärts.

Je tiefer sie in den Wald eindrang, desto intensiver wurde die seltsame Energie, die die Luft erfüllte. Das Summen aus ihren Träumen war nun real, vibrierte in ihren Knochen. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ sie innehalten, doch als sie sich umdrehte, war dort nichts – nur Schatten, die in der dichten Dunkelheit flirrten. Die leuchtenden Pilze auf dem Waldboden warfen ein mattes, silbriges Licht, das die Konturen der Bäume verstärkte.

Schließlich brach sie in eine Lichtung ein. Ihr Atem stockte. Der Altar war genau so, wie sie ihn in ihren Träumen gesehen hatte – massiv, aus grauem Stein, die Runen darauf glühten schwach in einem unbestimmten Licht. Die Luft um ihn herum war kälter, und das Summen wurde zu einem Dröhnen in ihrem Kopf. Ihr Herz raste, doch sie trat näher, fast wie in Trance.

Ihre Hand hob sich, ohne dass sie es bewusst wollte. Der Stein war rau und kalt unter ihren Fingern.

Ein Blitz durchzuckte sie, und sie stürzte auf die Knie. Bilder fluteten ihren Geist – ein Wald, urtümlich und wild, ein Rudel Wölfe mit funkelnden Augen, Flammen, die alles verschlangen, und schließlich ein Paar goldene Augen, die sie aus der Dunkelheit anstarrten. Die Stimme aus ihren Träumen sprach wieder, diesmal klarer, eindringlicher. "Du bist die Letzte. Du wirst es vollenden."

Alina schnappte nach Luft, zog ihre Hand zurück und fiel rücklings in das feuchte Moos. Ihr Kopf schwirrte, und alles in ihr schrie, dass sie weglaufen sollte. Doch dann hörte sie es – ein tiefes Knurren aus der Dunkelheit.

Als sie aufsah, sah sie die Augen. Goldene, glühende Augen, die sie anstarrten. Eine Gestalt trat aus den Schatten, groß, breitschultrig, mit zerzaustem schwarzem Haar. Selbst aus der Entfernung konnte sie die Spannung in seinen Bewegungen spüren, wie die eines Raubtiers.

"Du bist also diejenige, die der Wald geweckt hat," sagte er, seine Stimme rau und bedrohlich. Er trat näher, seine Augen verengten sich. "Der Wald hat seine Wahl getroffen."

Alina presste sich zurück, ihr Körper starr vor Angst. "Wer... wer bist du?" flüsterte sie schließlich.

Er blieb stehen, ein Schatten mit leuchtenden Augen. "Ich bin Kael," sagte er, und seine Stimme klang wie ein Grollen. "Und du hast etwas ausgelöst, das du nicht verstehst."