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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterGeheimnisse im Schatten


Wechselnd zwischen Alina und Kael

Der Morgen dämmerte grau und schwer. Alina saß auf der Kante ihres Bettes, die Finger um einen grob gearbeiteten Becher geschlungen, der mit dampfendem Tee halb gefüllt war. Der bittere Geschmack zog sich wie eine Spur durch ihre Kehle, doch sie trank mechanisch weiter. Ihre Gedanken waren wie ein verworrener Knoten, der sich nicht lösen wollte – zurück zur letzten Nacht, zur Lichtung, zum Altar, zu den goldenen Augen, die sie aus der Dunkelheit heraus angestarrt hatten.

Kael. Sein Name hallte in ihrem Kopf wider, wie ein Echo, das nicht verhallte. Es war, als hätte der Wald ihn selbst in ihre Gedanken eingepflanzt, unausweichlich, hartnäckig. Alina schauderte, als sie an seine rauen Worte dachte, an die unheimliche Gewissheit in seiner Stimme. „Der Wald hat seine Wahl getroffen.“ Welche Wahl? Und warum sie? Ihre Mutter hatte sie immer gewarnt, hatte sie vor dem Wald und seinen dunklen Geheimnissen ferngehalten. Aber dieser Wald – er schien sie in seinen Bann gezogen zu haben, und sie war mitten in dessen Herz gestolpert – dorthin, wo sie spürte, dass es kein Zurück mehr geben würde.

Ein leises Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Es war ungewöhnlich. Ihre Mutter klopfte sonst nie an. „Herein“, rief sie, ihre Stimme brüchig, kaum mehr als ein Flüstern.

Die Tür öffnete sich langsam. Ihre Mutter trat ein, die Schultern leicht nach vorne gebeugt, als würde sie eine unsichtbare Last schultern. In ihren Händen hielt sie eine kleine, in Leder gebundene Kiste. Ihr Blick wirkte schwer, als sie die Kiste auf den Tisch stellte und dann zögerlich zu Alina aufblickte.

„Das hier gehört dir.“ Ihre Stimme war leise, fast flüsternd, aber fest. Ihre dunklen Augen waren von einem Schatten durchzogen, der Alina kurz innehalten ließ. „Ich habe gehofft, dass dieser Tag niemals kommen würde. Aber ich sehe es in deinen Augen – du hast den Ruf gehört.“

Alina runzelte die Stirn und stellte ihren Becher ab. Langsam erhob sie sich und trat zum Tisch. Ihre Finger zögerten, als sie die Oberfläche der Kiste berührten. Das Leder war abgenutzt, fast samtig. Runen – dieselben wie auf dem Altar – waren in das Material geprägt. Sie schienen schwach zu pulsieren, als würden sie atmen.

„Was ist das?“ fragte sie, ihre Stimme zögernd, voller Spannung. Ihre Mutter wich ihrem Blick aus, bevor sie antwortete.

„Es ist… ein Teil unserer Familie. Ein Teil von dir. Es enthält Wissen, das du vielleicht brauchen wirst. Aber sei gewarnt: Manche Dinge, die du darin findest, sollten unausgesprochen bleiben.“

Alina öffnete die Kiste langsam. Der Geruch von altem Pergament, Kräutern und etwas, das sie nicht genau benennen konnte, schlug ihr entgegen. Darin lag ein schweres Buch, dessen Einband mit leuchtenden Runen verziert war, die sie aus ihren Träumen kannte. Neben dem Buch lag ein kleiner, versiegelter Brief.

„Warum hast du mir das nie gezeigt?“ Alinas Stimme hob sich, eine Mischung aus Frustration und Verwirrung. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog, die Worte drängten sich heraus.

„Weil ich dich schützen wollte.“ Die Mutter sprach mit leiser, aber zitternder Stimme. Es war das erste Mal, dass Alina so etwas wie Schwäche in ihrer Mutter sah. „Dein Vater… er wollte, dass du es nie siehst. Er wollte nicht, dass du denselben Weg gehst wie die, die vor dir waren.“

„Was für ein Weg?“ Alina hob das Buch aus der Kiste. Es fühlte sich warm an, beinahe lebendig. Sie konnte kaum atmen. „Warum bin ich in all das verwickelt? Warum träume ich von diesem Altar? Von diesen Runen?“ Ihre Stimme wurde fordernd, drängender, fast verzweifelt. Sie wollte Antworten, brauchte sie. Doch ihre Mutter schüttelte nur den Kopf, ihre Augen schienen tiefer in die Vergangenheit zu blicken.

„Manchmal… ist es besser, keine Antworten zu haben“, sagte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Aber ich sehe, dass du sie suchen wirst, egal, was ich sage. Sei vorsichtig, Alina. Es gibt Dinge dort draußen, die du nicht verstehst.“

Alina drehte sich um und ließ sich schwer auf den Boden sinken, das Buch vor sich. Ihre Mutter verließ den Raum, und ein leises Klicken der Tür hinter ihr hallte nach.

***

Tief im Wald, verborgen zwischen hohen Tannen, saß Kael auf einem umgestürzten Baumstamm. Seine Muskeln waren angespannt, seine goldenen Augen flackerten im Halbdunkel. Vor ihm stand Rian, sein Beta, die Arme verschränkt, sein Blick ernst.

„Es gab Spuren“, begann Rian knapp. „Jäger sind wieder aktiv. Sie sind näher als sonst. Und sie sind besser ausgerüstet – Runenfallen, verstärkte Pfeile. Es scheint, als wüssten sie, was kommt.“

Kaels Kiefer spannte sich. Seine Hände ballten sich so fest zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Das ist keine Überraschung“, murmelte er, seine Stimme tief und angespannt. „Seit diese Magie erwacht ist, spüren sie es. Sie wissen, dass etwas kommt.“

Rian neigte seinen Kopf leicht zur Seite, ein Anzeichen seiner inneren Unruhe. „Es begann in der Nacht, als sie den Altar berührte, nicht wahr?“ Seine Stimme war leise, fast tastend.

Kaels Blick wurde schärfer. „Ja.“ Das eine Wort trug eine Schwere, die Rian nicht entging.

„Dann ist sie der Schlüssel?“ Rians Stimme war vorsichtig, als ob er die Antwort fürchtete.

Kael stand plötzlich auf, seine Bewegungen waren angespannt, fast rastlos. Er begann auf und ab zu gehen, seine Schritte kaum hörbar auf dem feuchten Waldboden. „Vielleicht. Aber sie ist auch eine Gefahr.“ Er hielt inne, seine Augen fixierten Rian. „Die Jäger werden sie suchen. Wenn sie sie finden, ist es vorbei.“

Rian nickte langsam, doch sein misstrauischer Blick blieb auf Kael gerichtet. „Was wirst du tun? Beschützen? Oder…“

„Ich werde beobachten“, unterbrach Kael ihn. Seine Stimme war schneidend, endgültig. „Ich werde sehen, was sie wirklich ist. Dann entscheide ich, ob sie eine Verbündete ist – oder eine Bedrohung.“

***

Alina blätterte durch die vergilbten Seiten. Die Runen schienen zu pulsieren, als würde das Buch atmen. Sie konnte sie nicht lesen, nicht direkt – doch sie flüsterten in ihrem Geist, Bilder und Gefühle, die sie nicht greifen konnte. Als sie die Zeichnung des Altars entdeckte, stockte ihr Atem. Darunter standen drei Worte: „Bindung… Blut… Opfer.“

Ihr Herz schlug schneller, ein dumpfes Dröhnen in ihren Ohren. „Was bedeutet das?“ flüsterte sie, doch die Seiten blieben stumm. Statt einer Antwort spürte sie wieder dieses Ziehen, ein unbestimmbarer Ruf, der sie hinaus in den Wald lockte.

Sie schloss das Buch und legte es vorsichtig zurück in die Kiste. Ihre Hände zitterten leicht, als sie sich erhob.

***

Kael stand am Rand der Lichtung. Seine Finger glitten über den kalten Stein des Altars. Die Runen hatten ihr Leuchten verloren, doch die Magie – sie war noch spürbar. „Was bist du wirklich?“ murmelte er.

Alinas Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf – diese Mischung aus Angst und Mut, aus Unsicherheit und Entschlossenheit. Sie war anders. Und das machte sie gefährlich. Aber vielleicht – vielleicht war sie auch die Rettung, die er suchte.

***

Die Sonne begann unterzugehen, und Alina stand am Waldrand. Das Buch lag schwer in ihren Händen. Mit einem letzten Blick zurück trat sie in den Wald. Die Dunkelheit verschluckte sie, und das Summen begann erneut.

Nicht weit entfernt, verborgen in den Schatten, blitzten goldene Augen auf.