reader.chapter — Das verbotene Vermächtnis
Wechselnd zwischen Alina und Kael
Die Dämmerung legte sich wie ein dunkler Schleier über das Dorf, und der nachklingende Klang des Abendglockenschlags hallte in der stillen Luft. Alina saß an ihrem Schreibtisch, das ledergebundene Buch im schwachen Licht einer Kerze vor sich. Die Runen auf dem Einband schimmerten leicht, als würde das Licht von innen kommen. Ihre Finger glitten vorsichtig über die Prägungen, und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Es fühlte sich an, als ob das Buch lebendig wäre, als ob es auf ihre Berührung reagierte – ein leises Pulsieren, das ihren Herzschlag zu spiegeln schien.
Sie öffnete die erste Seite erneut. Die Runen waren ein Wirrwarr aus Symbolen, die sie nicht entschlüsseln konnte. Doch etwas an ihnen wirkte vertraut, wie ein lang vergessenes Lied, dessen Melodie in ihrem Unterbewusstsein widerhallte. Ein Gedanke wuchs in ihr – nein, ein Wissen –, das sie nicht benennen konnte. Sie hielt einen Schlüssel in der Hand, doch sie hatte noch nicht das Schloss gefunden, das er öffnen sollte.
Alina lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Worte ihrer Mutter hallten durch ihren Geist: „Manche Dinge sollten unausgesprochen bleiben.“ Doch was wollte sie verbergen? Was war so gefährlich an der Wahrheit? Alina atmete tief ein und zwang sich, die Angst zu ignorieren, die an ihrem Inneren nagte. Mit zitternden Händen blätterte sie weiter.
Eine Zeichnung sprang ihr ins Auge, und ihre Atmung wurde flacher. Es war der Altar aus ihren Träumen, unverkennbar, mit denselben leuchtenden Runen, die sie in jener Nacht gesehen hatte. Darunter stand eine kurze Notiz, die wie eine Warnung wirkte: „Bindung. Blut. Opfer.“ Die Worte schienen sich in ihr Bewusstsein zu brennen, wie eine unausweichliche Wahrheit, die an die Oberfläche drängte.
„Bindung … Blut … Opfer“, flüsterte sie, und das Echo ihrer Stimme klang in ihrem kleinen Zimmer fremd. Ein Dröhnen begann in ihrem Kopf, leise und unterschwellig, als käme es von weit her. Sie schluckte schwer, ihr Inneres ein chaotisches Wirrwarr aus Furcht und einer unbezwingbaren Neugier.
Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus. Der Wald war kaum zu sehen, ein schwarzer, undeutlicher Schatten am Horizont. Doch sie spürte ihn – seinen Ruf, seine unbändige Energie, die durch die Dunkelheit zu ihr drang. Es war, als ob etwas in ihr sang, ein Echo der Magie des Waldes, das sie nicht mehr ignorieren konnte.
Ohne lange nachzudenken, schnappte sie sich das Buch und ihren Umhang. Sie wusste, dass ihre Mutter sie davon abhalten würde, wenn sie es bemerkte. Also schlich sie sich leise aus dem Haus, die Kiste sicher unter dem Arm, und trat hinaus in die kühle Nachtluft.
Die Straßen des Dorfes lagen still und verlassen da, nur das vereinzelte Licht in einem Fenster flackerte durch die Dunkelheit. Alina spürte, wie die misstrauischen Blicke der Dorfbewohner, die sie tagsüber verfolgten, selbst in der Abwesenheit ihrer Besitzer auf ihr hafteten. Doch sie schob die Gedanken beiseite und lenkte ihre Schritte zum Waldrand.
Der Weg dorthin schien länger als je zuvor. Jeder Schritt hallte in der nächtlichen Stille wider, und ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um die Worte im Buch. „Bindung, Blut, Opfer.“ Was bedeuteten sie wirklich? Wessen Blut? Welches Opfer? Ihr Herz klopfte schneller, und sie spürte, wie eine Welle aus Angst und Entschlossenheit sie vorwärts trieb.
Kaum hatte sie den Schatten der ersten Bäume erreicht, umfing sie eine andere Welt. Die Luft war schwer, erfüllt von dem vertrauten Summen, das sie zuerst auf der Lichtung gespürt hatte. Es war, als würde der Wald sie willkommen heißen – oder verschlingen. Die Dunkelheit schien lebendig, die Schatten bewegten sich in einem Rhythmus, den nur sie wahrzunehmen schien.
Sie ging tiefer hinein, geführt von einer unsichtbaren Kraft. Das Buch schien in ihren Händen leichter zu werden, als ob es sie selbst führen wollte. Jeder Schritt ließ die Anziehungskraft stärker werden, bis sie schließlich die Lichtung erreichte. Der Altar stand da wie ein Wächter, umgeben von der stillen, ehrfurchtgebietenden Aura, die sie in ihren Träumen gespürt hatte.
Die Runen waren dunkel; sie leuchteten nicht wie in der Nacht zuvor. Dennoch konnte Alina die Magie in der Luft spüren, ein Pulsieren, das sie fast aus dem Gleichgewicht brachte. Sie kniete vor dem Altar nieder, legte das Buch vor sich und öffnete es erneut.
Die Seiten schienen jetzt klarer zu sein, die Runen bewegten sich in ihren Gedanken, formten Bilder und Eindrücke. Eine Vision überkam sie: Der Wald, uralt und lebendig, ein Rudel von Wölfen, die sich um den Altar scharten. Blut, das in die Erde sickerte, und eine Stimme, die sie rief – dieselbe, die sie schon in ihren Träumen gehört hatte.
„Du bist die Letzte. Du wirst es vollenden.“
Die Worte hallten in ihrem Kopf wider, und sie spürte plötzlich einen stechenden Schmerz in ihrer Hand. Sie hatte unbewusst den Rand des Altars berührt, und eine scharfe Kante hatte ihre Haut aufgerissen. Ein Tropfen Blut fiel auf die steinernen Runen, und in diesem Moment begann der Altar zu vibrieren.
Die Runen glühten schwach auf, und das Summen verstärkte sich. Der Wald schien aufzuatmen, als würde etwas uraltes Erwachen. Ein plötzlicher, metallischer Geruch stieg in die Luft, und Alina zog die Hand zurück, doch sie konnte ihre Augen nicht von dem Altar wenden. Ihr Atem stockte.
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Das Knacken von Zweigen, ein leises Knurren. Die Dunkelheit war nicht mehr still.
***
Kael beobachtete sie. Verborgen zwischen den Bäumen stand er regungslos, seine goldenen Augen fixierten jede ihrer Bewegungen. Er hatte ihre Spur verfolgt, seit sie den Wald betreten hatte, unsicher, warum er sich überhaupt die Mühe machte.
Doch jetzt, da er sie sah, konnte er nicht verleugnen, dass etwas anders war. Die Art, wie sie mit dem Altar interagierte, wie die Magie auf sie reagierte – das alles war beunruhigend und faszinierend zugleich.
Rian hatte recht gehabt. Sie war der Schlüssel, doch zu welchem Schloss? Kael fühlte sich hin- und hergerissen. Sein Instinkt sagte ihm, sie zu schützen. Doch seine Pflichten als Alpha warnten ihn, dass sie ebenso gut alles zerstören könnte, wofür er kämpfte.
Er spürte, wie seine Hände sich unbewusst zu Fäusten ballten, als er sie betrachtete. Die Art, wie sie vor dem Altar kniete, so seltsam vertraut, weckte Erinnerungen an längst vergangene Rituale, die ihm nur aus Erzählungen bekannt waren.
Er trat aus den Schatten. Die Spannung in der Luft verdichtete sich, als Alina ihn sah.
„Du bist wieder hier“, sagte sie, ihre Stimme eine Mischung aus Angst und Trotz.
„Ich hätte dich nicht allein hier herumlaufen lassen sollen“, erwiderte Kael, seine raue Stimme hallte in der Stille. „Du weißt nicht, mit was du spielst.“
„Ich suche nach Antworten“, entgegnete Alina, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Du scheinst mehr zu wissen als ich. Vielleicht solltest du mir helfen, anstatt mich zu verfolgen.“
Kaels Augen verengten sich. „Das, was du suchst, hat einen Preis. Und du bist nicht bereit, ihn zu zahlen.“
Alina trat einen Schritt nach vorne, ihr Blick brannte. „Das ist nicht deine Entscheidung.“
Die Spannung zwischen ihnen war fast greifbar, die Dunkelheit des Waldes schien sie wie eine schwere Decke einzuhüllen. Kael spürte, wie die Magie des Altars sich regte, stärker wurde. Sie reagierte auf Alina, auf ihr Blut, auf ihre Präsenz. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
„Du spielst mit Kräften, die dich zerreißen könnten“, sagte er schließlich in einem Ton, der sowohl Warnung als auch Herausforderung war.
„Vielleicht“, antwortete sie leise, „aber ich habe keine Wahl.“
Kael blickte sie lange an. Es gab etwas in ihr, das er nicht verstand – eine Entschlossenheit, die ihn beunruhigte. Sie war keine gewöhnliche Magierin, keine gewöhnliche Frau. Und genau das machte sie so gefährlich für ihn, für sein Rudel, für den Wald.
„Dann werde ich dich beobachten“, sagte er schließlich, sein Ton hart und endgültig. „Aber erwarte nicht, dass der Wald Gnade zeigt.“
Mit diesen Worten wandte er sich ab und verschwand in der Dunkelheit des Waldes, seine Gestalt verschmolz mit den Schatten.
Alina stand allein auf der Lichtung, das Buch in ihren Händen, ihre Gedanken ein Chaos. Doch eines wusste sie: Sie war einen Schritt näher an den Antworten, die sie suchte – und an den Gefahren, die sie mit sich brachten.
Das Summen des Waldes wurde lauter, und sie spürte, dass dies erst der Anfang war.