App herunterladen

Liebesromane an einem Ort

reader.chapterVerborgene Schatten


Sophia

Die Straßen Hamburgs lagen in einem diffusen Zwielicht, als Sophia langsam durch die Gassen ging, den Kragen ihres Mantels fest um ihren Hals gezogen. Der Wind trug den Geruch von Regen und feuchtem Asphalt mit sich, während die letzten Blätter des Herbstes über das Kopfsteinpflaster tanzten. Ihre graublauen Augen wanderten über die vertrauten Fassaden, doch ihr Blick war nach innen gerichtet.

Der Tag hatte wie so viele vorher begonnen: Aufstehen, Vorlesung, Bibliothek. Der Rhythmus ihres Lebens war ein beruhigend monotoner Takt, der alle Unordnung fernhielt. Doch seit einigen Wochen fühlte sich dieser Takt erstickend an, als sei sie in einer Endlosschleife gefangen. Ihre Gedanken schweiften zu ihrer Mutter, zu ihrem ständigen Urteil, das wie ein unsichtbarer Schatten über ihr hing. "Du kannst mehr aus dir machen, Sophia", hatte sie bei ihrem letzten Telefonat gesagt, der Satz durchzogen von jener schneidenden Schärfe, die wie eine Nadel unter Sophias Haut kroch.

„Du denkst zu viel“, hatte Lotti erst gestern gesagt, als sie sich in Sophias Wohnung zusammengesetzt hatten. Ihre Freundin war ein Wirbelwind gewesen, hatte sich mit einer Pizza auf den alten, durchgesessenen Sessel fallen lassen und mit einer Mischung aus Aufregung und Spott erklärt, dass sie einen neuen Ort gefunden habe – einen Buchladen, der nicht einmal bei Google auftauchte.

„Versteckt in einer Gasse, als wäre er aus einem Fantasy-Roman gefallen“, hatte Lotti geflüstert, ihre Augen funkelnd vor Begeisterung, während sie ein weiteres Stück Pizza in den Mund stopfte. Ihre Hände hatten lebhaft gestikuliert, als könnte sie ihre Worte durch reine Energie zum Leben erwecken.

Sophia hatte zunächst nur gelächelt, denn Lotti hatte immer eine Vorliebe für das Ungewöhnliche. Doch als ihre Freundin darauf bestanden hatte, dass sie gemeinsam hingehen müssten, hatte Sophia wider Erwarten zugestimmt. Vielleicht war es die leise Hoffnung, etwas aus ihrem eintönigen Alltag auszubrechen. Vielleicht war es auch nur, um Lotti eine Freude zu machen.

Jetzt war der Abend gekommen, und Sophia spürte eine Mischung aus Vorfreude und Nervosität. Lotti wartete bereits an der Ecke einer Seitenstraße, das kinnlange Haar heute in einem kräftigen Blau, das selbst im schwachen Licht der Straßenlaternen leuchtete. „Da bist du ja!“ rief sie aus, ihre Stimme eine Spur zu laut für die stille Straße.

„Ich weiß nicht, warum wir das bei diesem Wetter machen“, murmelte Sophia, zog ihren Schal enger und folgte Lotti, die vor Energie fast hüpfte.

„Weil es Abenteuer gibt, die man nicht verpassen darf.“ Lotti grinste breit, ihre Augen blitzten schelmisch. „Und weil dein Leben nicht nur aus Psychologiebüchern und nervigen Anrufen deiner Mutter bestehen darf. Vielleicht findest du ja ein Buch über ‚Wie werde ich ein bisschen weniger langweilig‘.“

„Sehr witzig“, entgegnete Sophia trocken, doch ihre Mundwinkel zuckten leicht.

Die Gasse, in die sie abbogen, schien im Gegensatz zu den belebten Straßen Hamburgs aus einer anderen Welt zu stammen. Die gepflasterten Wege waren uneben, und die hohen Backsteinhäuser schienen enger zusammenzurücken, als wollten sie die Dunkelheit in ihren Schatten umarmen. Der Geruch von Moder und altem Holz hing in der Luft, und bei jedem Schritt knarrte der Boden leise unter ihren Füßen.

„Da ist er“, flüsterte Lotti plötzlich und blieb stehen. Vor ihnen erhob sich eine unscheinbare Holztür, die kaum als Eingang zu erkennen war. Ein kleines, verwittertes Schild hing darüber: „Der Verborgene Buchladen“.

„Das ist... sehr anders“, murmelte Sophia, während ein seltsames Kribbeln über ihre Haut lief. Es war, als ob die Gasse selbst sie beobachtete, als wartete sie auf etwas.

„Perfekt! Los, rein mit uns!“ Lotti drängte die Tür auf, und ein leises Klingeln hallte in die Stille, als ein Glöckchen über dem Eingang an die Bewegung der Tür erinnerte.

Die Luft im Inneren war schwer, erfüllt vom Geruch von Papier und der Zeit, die auf ihm geruht hatte. Das warme, gedämpfte Licht von alten Lampen brach durch die Schatten zwischen den Bücherregalen, die sich wie ein Labyrinth vor ihnen erstreckten. Sophia spürte, wie sich ihr Atem verlangsamte, das Gewicht des Ortes schwer auf ihren Schultern.

„Das ist ja... wow“, sagte Lotti, ihre Stimme nun gedämpft, fast ehrfürchtig. Sie trat vor, ihre Finger glitten neugierig über die Buchrücken, während sie sich in den vorderen Regalen umsah.

Sophia blieb einen Moment stehen, ließ den Raum auf sich wirken. Die Stille war nicht unangenehm, doch sie hatte etwas Eigenartiges, fast Lebendiges. Ihre Augen wanderten zu den hinteren Ecken, wo die Schatten dichter und die Regale chaotischer wirkten. Unwillkürlich zog es sie dorthin, ihre Schritte leise auf den knarrenden Dielen.

Die Geräuschkulisse von Lottis Murmeln und dem Rascheln von Seiten wurde leiser, bis sie schließlich verstummte. Sophia war allein, tief in den hinteren, dunkleren Bereich des Ladens vorgedrungen. Hier schienen die Bücher älter zu sein, ihre Einbände abgenutzt und die Titel oft in einer Sprache geschrieben, die sie nicht verstand. Ein leises Kribbeln durchlief sie, eine Mischung aus Neugier und Unbehagen.

Und dann sah sie ihn.

Zwischen zwei Regalen, halb im Schatten verborgen, stand ein Mann. Er war groß, mit einer schlanken Statur, und sein dunkles Haar fiel ihm in die Stirn. Er hielt ein Buch in den Händen, doch sein Blick war auf sie gerichtet, stechend grüne Augen, die für einen Moment wie ein Raubtier auf ihr ruhten.

Sophias Herz setzte einen Schlag aus. Es war nicht nur die Intensität seines Blicks, sondern etwas an ihm, das schwer zu fassen war – als ob er nicht ganz in diese Welt gehörte. Sie bemerkte, wie ihre Finger unwillkürlich den Rand ihres Schals umklammerten.

Der Mann neigte leicht den Kopf, ein kaum merkliches Lächeln umspielte seine Lippen, bevor er den Blick wieder auf das Buch in seinen Händen senkte. Die Luft zwischen ihnen fühlte sich elektrisiert an, und Sophia wusste nicht, warum sie nicht gehen konnte.

Ein leises Geräusch hinter ihr – Lotti, die ihren Namen rief. Sophia riss sich aus ihrer Starre, drehte sich um und ging zurück in die helleren Bereiche des Ladens.

„Da bist du ja! Ich dachte schon, du hast dich verlaufen“, sagte Lotti, ein Buch in der Hand, während sie sie anlächelte.

„Ich... war nur... neugierig“, murmelte Sophia und vermied es, zurückzublicken. Doch das Bild des Mannes und sein Blick hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Als sie den Laden verließen und die kühle Nachtluft sie umgab, konnte Sophia das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas in ihrem Leben sich verändert hatte. Ein Schatten war durch die Tür des Buchladens in ihr Bewusstsein getreten, und sie wusste, dass sie ihn nicht so leicht loswerden würde. Ihr Herz schlug schneller, als sie an den Mann dachte, und sie spürte ein leises Zittern in ihren Händen.