reader.chapter — Das Flüstern der Seiten
Sophia
Die Tür schloss sich mit einem sanften Klick hinter Sophia, und die Welt draußen verblasste wie der letzte Nachhall eines weit entfernten Echos. Es war, als ob sie in eine andere Ebene der Realität eingetreten wäre. Die Luft war schwer, satt mit dem Duft von altem Papier, durchzogen von einer eigenartigen Feuchtigkeit und einem kaum wahrnehmbaren metallischen Unterton. Der Raum schien durch die Zeit gezeichnet, doch die Schatten zwischen den Regalen flüsterten von Dingen, die aus der Zeit gefallen waren – Geheimnisse, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden.
„Das ist der absolute Wahnsinn, Sophia! Schau dir das an!“ Lottis gedämpfte Stimme hatte ihren unverkennbaren Eifer. Sie bewegte sich wie ein Wirbelwind durch die Regale, ihre Schritte leicht und unbeschwert, das Klirren ihrer Armreifen hallte leise in dem gedämpften Raum wider. „Ich wette, hier gibt’s Bücher, die seit Jahrhunderten niemand mehr gelesen hat.“
Sophia folgte ihr, doch ihre Bewegungen waren langsamer, vorsichtiger. Die Regale, die sich labyrinthisch erstreckten, schienen endlos und chaotisch – eine Mischung aus akribisch geordneten Reihen und wild hineingedrückten Bänden, die sich förmlich an ihren Platz zu klammern schienen. Kleine, handgeschriebene Schilder versuchten Ordnung zu schaffen, doch die Schrift war so verblasst, dass sie kaum mehr als ein Flüstern von Kategorien anbot: „Philosophie“, „Esoterik“, „Unbekannte Sprachen“.
„Lotti, hast du gesehen, wie alt manche von diesen Büchern sind?“ fragte Sophia schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch, als wolle sie die Stille des Ortes nicht stören.
„Deshalb sind wir doch hier! Stell dir vor, was für Schätze es hier geben könnte. Vielleicht finden wir ein Buch, das uns die Geheimnisse des Lebens erklärt.“ Lotti grinste über ihre Schulter hinweg, ihre Begeisterung ansteckend.
Sophia ließ ein leises Lachen entweichen, doch ein unheimlicher Schauer zog ihren Rücken hinab. Es lag eine seltsame Energie in der Luft, fast als ob die Bücher selbst sie beobachteten. Sie hatte das Gefühl, dass sie sie riefen, leise, eindringlich – ein Gedanke, der sie gleichermaßen faszinierte und verstörte.
„Ich gehe ein bisschen weiter rein“, murmelte sie schließlich, mehr zu sich selbst als zu Lotti, die bereits in den vorderen Regalen vertieft war.
„Klar, aber pass auf, dass du dich nicht in diesem Bücher-Dschungel verlierst!“ rief Lotti ihr nach und lachte leise. „Die hinteren Ecken sehen ziemlich... eigenartig aus.“
Sophia nickte nur flüchtig, während sie tiefer in den Laden ging. Mit jedem Schritt wurde die Atmosphäre dichter, die Schatten schwerer. Das gedämpfte Licht der antiken Lampen schien kaum bis in diesen Teil des Raumes vorzudringen, und die Luft fühlte sich kühler an, wie in den Tiefen eines alten Gewölbes. Ihre Schritte knarrten über die Dielen, ein leises, beharrliches Echo, das sie merkwürdig verletzlich wirken ließ.
Die Bücher hier waren anders. Ihre Einbände waren ausgeleiert, vielfach geflickt oder so alt, dass sie kaum noch Form hielten. Viele hatten keine Titel, nur verblasste Symbole, die auf ihren Rücken eingeprägt waren, und einige waren in Sprachen geschrieben, die sie nicht entziffern konnte. Hier, in dieser stillen Enklave, verspürte sie eine seltsame Anziehung, als ob sie mit jedem Atemzug tiefer in eine Welt hineingezogen wurde, die sie nicht verstand.
Ein Buch fiel ihr besonders ins Auge. Es lag halb verborgen zwischen anderen, sein Einband tiefschwarz, mit einem Symbol darauf, das im schwachen Licht zu pulsieren schien. Sie streckte die Hand aus, zögerte, bevor ihre Finger den Einband berührten. Ein prickelndes Kitzeln zog sich über ihren Handrücken, als ob das Buch lebendig wäre und sie erkannte. Hastig zog sie die Hand zurück und blickte nervös über ihre Schulter. Niemand war da.
Ein leises Rascheln drang an ihr Ohr, kaum mehr als ein Atemzug. Sie drehte sich um.
Da stand er.
Er war schlank und aufrecht, mit einem fast aristokratischen Gesicht und stechend grünen Augen, die sie unerbittlich fixierten. Sein dunkles Haar fiel in leichten Wellen über seine Stirn, und eine rätselhafte Aura umgab ihn, die ihn fast unwirklich erscheinen ließ. Sein Blick war schwer, als würde er jedes Geheimnis, jede Unsicherheit in ihr durchdringen. Ihr Atem stockte, und sie spürte, wie ihr Herz wie ein Vogel gegen ihren Brustkorb flatterte.
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe“, sagte er mit einer tiefen, ruhigen Stimme, die wie ein ferner Klang von Glocken in der Stille nachhallte. „Das passiert in diesen alten Ecken des Ladens öfter. Manchmal haben sie... eine eigenartige Wirkung.“
Sophia wollte etwas sagen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Schließlich brachte sie ein schwaches „Es ist schon in Ordnung. Ich habe Sie nicht bemerkt“ hervor.
„Das tun die meisten nicht.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das gleichzeitig warm und rätselhaft war, als ob es ein Geheimnis in sich trüge, das sie nie ganz ergründen könnte.
Ihr Blick glitt unwillkürlich zu dem Buch in ihren Händen, und sie bemerkte, dass er selbst einen Band hielt – dick, mit einem geprägten Wappen, das an eine alte Familieninsignie erinnerte.
„Ein interessantes Buch, das Sie da haben“, bemerkte er leise, sein Blick auf das schwarze Buch fixiert, das sie noch immer hielt.
Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Ich... ich wollte es mir nur ansehen.“
„Man sagt, es wählt seine Leser aus“, sagte er mit einem Hauch von Amüsiertheit in seiner Stimme, die jedoch etwas Dunkles verbarg. „Die Frage ist, ob Sie bereit sind, gewählt zu werden.“
Seine Worte ließen sie frösteln, und für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Doch bevor sie antworten konnte, unterbrach eine Stimme die Spannung.
„Leo!“
Sophia wandte sich um und sah eine Frau, die aus einem angrenzenden Gang trat. Sie war schlank, mit grauem Haar, das streng in einem Knoten zusammengebunden war, und ihre Erscheinung strahlte eine autoritäre Ruhe aus. Ihre Augen fixierten Sophia mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht.
„Du solltest nicht so viel Zeit hier hinten verbringen“, sagte die Frau, ohne Leo direkt anzusehen. Stattdessen blieb ihr Blick auf Sophia gerichtet, und ihre Worte schienen mehrdeutig, fast wie eine Warnung.
„Natürlich, Frau Kessler.“ Leo neigte leicht den Kopf. Seine Stimme war höflich, doch Sophia spürte eine unterdrückte Spannung in seiner Haltung.
Frau Kessler trat einen Schritt näher zu Sophia. „Seien Sie vorsichtig, welche Bücher Sie mitnehmen. Manche Geschichten tragen mehr Gewicht, als sie zu scheinen vermögen.“
Sophia wollte etwas erwidern, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Stattdessen nickte sie stumm.
Leo schenkte ihr einen letzten Blick, den sie nicht deuten konnte – ein Blick voller Rätsel, der ihre Gedanken noch lange beschäftigen würde. Dann folgte er Frau Kessler, und die beiden verschwanden in den Schatten.
Sophia blieb reglos stehen, das schwarze Buch in den Händen. Es fühlte sich schwerer an, als es sein sollte, und die Luft schien sich wie Nebel um sie zu legen, dicht und undurchdringlich.
Als sie schließlich zu Lotti zurückkehrte, war diese bereits an der Kasse und plauderte fröhlich mit dem Verkäufer, einem älteren Mann mit dicker Brille. Lottis Stimme war wie ein heller Windstoß, doch Sophia fühlte sich, als wäre sie in einer anderen Welt zurückgelassen worden.
„Na, hast du was Spannendes gefunden?“ fragte Lotti, als sie den Buchladen verließen.
Sophia warf einen letzten Blick zurück zur unscheinbaren Tür, die sich hinter ihnen schloss. „Ich... Ja, vielleicht.“
Doch innerlich wusste sie: Sie würde zurückkehren. Irgendetwas hatte sich in ihrem Leben verändert, etwas, das sie nicht begreifen konnte. Und inmitten dieses neuen Gefühls stand der Schatten eines Mannes mit stechend grünen Augen.