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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterEcho im Verborgenen


Sophia

Die Regentropfen prasselten gegen das Fenster, als würden sie den Takt eines unruhigen Herzens schlagen. Sophia saß an ihrem Schreibtisch, doch ihre Augen fixierten die leere Seite in ihrem Notizbuch. Der Stapel an Studienunterlagen, der sich wie ein stummer Vorwurf neben ihr erhob, wurde vom gleichmäßigen Ticken der Wanduhr begleitet, das die Zeit in unerbittlicher Monotonie voranschob. Aber Sophia konnte sich nicht konzentrieren. Ihr Kopf war ein Labyrinth aus Bildern und Eindrücken, die sich wie Schatten an die Ecken ihres Bewusstseins klammerten. Der Buchladen. Der Duft uralter Bücher. Das Knarren der Dielen. Und vor allem – sein Blick.

Leo.

Der Name war wie ein Echo durch ihren Geist gehallt, als die ältere Frau ihn ausgesprochen hatte. Ein Klang, der etwas in ihr berührte, das sie nicht benennen konnte. Seine stechend grünen Augen hatten durch sie hindurchzusehen geschienen, als ob er in ihr etwas erkannt hätte, das selbst ihr verborgen geblieben war. Wann immer sie versuchte, ihre Gedanken auf andere Dinge zu lenken, tauchte sein Gesicht in ihrem inneren Auge auf, so klar, als wäre er in den Raum getreten. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus, und sie schlang die Hände um ihre Ellbogen, als ob sie sich vor diesem unerwünschten Eindringling schützen könnte.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Bevor sie reagieren konnte, schwang die Tür auf, und Lotti marschierte mit der Energie eines Herbststurms in die kleine Wohnung. Ihr rotes Haar war wie ein Flammenkranz, ihre Wangen vor Kälte gerötet. In der einen Hand hielt sie einen dampfenden Pappbecher, in der anderen eine Tüte, die nach frischen Croissants duftete.

„Du siehst aus, als hätte dich eine nächtliche Existenzkrise erwischt“, bemerkte Lotti mit einem scharfen, aber humorvollen Unterton. Sie ließ die Tüte neben Sophias Notizbuch fallen und setzte sich ungefragt auf das schmale Bett. „Was ist los? Du siehst aus, als hättest du entweder eine Prüfung verhauen oder...“ Sie zog die Augenbrauen zusammen, ihr Gesicht wurde plötzlich konzentriert. „Oder du denkst über jemanden nach.“

Sophia wandte den Blick ab, doch sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Ich war nur abgelenkt, das ist alles“, erwiderte sie leise.

„Aha.“ Lotti betrachtete sie mit einem wissenden Grinsen und biss in ein Croissant. „Sag mir nicht, es liegt an diesem Typen im Buchladen. Wie hieß er nochmal? Leo?“

Sophia schwieg, doch ihre erröteten Wangen verrieten sie.

„Ich wusste es,“ triumphierte Lotti und streckte sich auf dem Bett aus. „Du hast diesen Ausdruck, Sophia. Den ‚Ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken‘-Ausdruck.“

„Das ist albern“, versuchte Sophia abzuwiegeln. „Ich war nur... verwirrt. Dieser Ort war einfach – eigenartig. Und dieses Buch...“

„Du meinst das Buch, das du nicht mitgenommen hast?“, fragte Lotti kauend. „Warum eigentlich nicht? War es zu gruselig?“

„Es hat sich nicht richtig angefühlt“, antwortete Sophia zögernd und wandte den Blick ab.

„Aber er hat sich richtig angefühlt, hm?“ Lottis Grinsen wurde breiter, und sie schob sich ein weiteres Stück Croissant in den Mund.

Sophia schüttelte nur stumm den Kopf, doch die Wahrheit nagte an ihr. Der Buchladen war mehr als ein Ort gewesen, und Leo... Er hatte etwas in ihr ausgelöst. Etwas, das sie nicht verstand.

„Hör zu“, begann Lotti, und ihre Stimme wurde ernster. „Warum gehst du nicht einfach nochmal hin? Du bist doch diejenige, die immer nach Antworten sucht. Vielleicht findest du heraus, was dir keine Ruhe lässt. Und wenn nicht – hey, vielleicht findest du wenigstens ein gutes Buch.“

Sophia wollte protestieren, doch der Gedanke hatte sich bereits in ihren Geist gesetzt.

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Am nächsten Abend fand Sophia sich in der engen Gasse wieder. Der Regen hatte aufgehört, doch die Pflastersteine glänzten noch nass im Licht der Straßenlaternen. Der Buchladen wirkte, als hätte er die Zeit selbst angehalten – verborgen, unscheinbar und dennoch voller Geheimnisse. Sie zögerte einen Moment, die Hand auf dem Türgriff, bevor sie einatmete und eintrat.

Die vertraute Schwere der Luft umfing sie. Der Geruch von Holz und Papier, das leise Knarren der Dielen – alles war so, wie sie es in Erinnerung hatte, und doch schien es intensiver, greifbarer. Sie war allein. Ohne Lottis aufbrausende Energie fühlte sich der Laden noch überwältigender an.

Sophia ließ ihre Finger über die Buchrücken gleiten, während sie langsam durch die Regale wanderte. Einige Titel waren verblasst, andere in Sprachen geschrieben, die sie nicht kannte. Sie spürte, wie die Welt draußen immer ferner wurde, als würde sie in eine andere Realität eintauchen.

Ihre Schritte führten sie unweigerlich tiefer in den Laden, in die hinteren, dunkleren Bereiche. Die Regale schienen sich zu dehnen, und die Luft wurde kühler. Für einen Moment hielt sie inne, unsicher, ob sie weitergehen sollte. Doch dann fiel ihr Blick auf ihn.

Leo.

Er stand zwischen den Regalen, eine schlanke, dunkle Gestalt, und beobachtete sie mit einem Lächeln, das mehr Andeutungen als Freundlichkeit enthielt. Seine grünen Augen leuchteten im schwachen Licht, und Sophia spürte, wie ihr Herz schneller schlug.

„Sie sind zurückgekehrt“, sagte er, seine Stimme ruhig wie das Flüstern eines geheimen Versprechens.

Sophia rang um Fassung. „Ja. Ich... wollte mich hier noch ein wenig umsehen.“

Er trat einen Schritt näher, seine Bewegungen geschmeidig und kontrolliert. „Dieser Ort hat eine eigenartige Wirkung auf Menschen. Die meisten bemerken nichts. Aber manche... hören das Flüstern zwischen den Seiten.“

Seine Worte ließen sie frösteln. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, und so wich sie seinem Blick aus, doch seine Präsenz schien den Raum um sie zu füllen.

„Ich denke, Sie sind gekommen, um Antworten zu finden“, fuhr er fort. „Doch sind Sie bereit, die Fragen zu stellen?“

Sophia wollte etwas entgegnen, doch ihre Worte blieben ihr im Hals stecken. Stattdessen folgte sie seinem Blick, der auf ein Buch wies, das in einem hohen Regal thronte. Der Einband war aus abgenutztem, rissigem Leder, und etwas daran zog sie an, obwohl sie es nicht verstand.

„Holen Sie es herunter“, forderte er sie auf, und seine Stimme hatte einen Klang, dem sie sich nicht widersetzen konnte.

Mit zitternden Händen nahm sie das Buch und hielt es vor sich. Der Einband fühlte sich seltsam warm an, und die Symbole darauf schienen sich zu bewegen, als würde der Raum um sie herum vibrieren. Sie schlug es auf und sah verschlungene Schriftzeichen, die sich einer Sprache bedienten, die sie nicht kannte.

„Verstehen Sie, was Sie sehen?“ Seine Stimme war ein Flüstern, das direkt in ihre Gedanken drang.

„Nein“, gestand sie. „Aber... es fühlt sich wichtig an.“

Leo lächelte, und in seinem Blick lag etwas, das sie nicht deuten konnte. „Nicht alles, was geschrieben ist, spricht zu den Augen. Manche Geschichten erwachen erst durch die Seele.“

In diesem Moment hörte Sophia Schritte. Die ältere Frau vom letzten Mal – Frau Kessler – trat in den hinteren Bereich des Ladens. Ihr scharfer Blick fiel auf Leo, und ihre Stimme war ruhig, aber mit einer unterschwelligen Warnung gefärbt. „Leo. Sie wissen, dass dieser Bereich nicht für alle zugänglich ist.“

Er hielt inne, sein Blick wurde wachsam. „Natürlich. Wir haben uns nur unterhalten.“

Frau Kessler fixierte Sophia, bevor sie sich wieder an Leo wandte. „Wir sehen uns vorne.“

Leo nickte, doch sein Blick blieb auf Sophia gerichtet. „Wir werden unser Gespräch fortsetzen. Bald.“

Bevor sie etwas sagen konnte, war er verschwunden, und Sophia stand allein da, das Buch noch immer in den Händen. Die Symbole auf den Seiten schienen zu flüstern, und das Gefühl der Unruhe in ihr wurde stärker. Sie wusste, dass sie zurückkehren würde – nicht nur wegen der Bücher. Sondern wegen ihm.