Kapitel 3 — Eine Botschaft im Verborgenen
Hanna
Die Nacht war kühler gewesen, als Hanna erwartet hatte, und der Morgen versprach strahlenden Sonnenschein. Doch die Kühle schien sich in ihre Gedanken eingenistet zu haben, ein leises, nagendes Frösteln, das sie nicht abschütteln konnte. Sie saß schweigend am Esstisch des Lofts, vor sich einen Teller mit halb angerührtem Frühstück, während ihre Gedanken wie in einer endlosen Schleife durch die Ereignisse der letzten Stunden wanderten. Das Amulett war wieder da – ein stilles, kaltes Gewicht in ihrer Tasche. Ihre Finger zuckten gelegentlich in Richtung der Tasche, als würde sie das Amulett spüren, selbst wenn sie es nicht berührte. Es schien sie zu beobachten, ein stummer Zeuge, der ihre Unruhe verstärkte.
Der Traum aus der letzten Nacht flackerte in ihrem Kopf auf. Der labyrinthartige Raum, das goldene Licht, die Stimmen, die sie zu rufen schienen. Und vor allem die Worte: „Die Wahrheit hinter der Maske.“ Sie fühlte einen Knoten in ihrer Brust, als ob etwas Unvermeidliches auf sie zukam.
Ein dumpfer, rhythmischer Klang riss sie aus ihren Gedanken. Mit gerunzelter Stirn hob sie den Blick. Der Klang kam nicht von der Tür, sondern aus der Richtung des zentralen Tisches, wo Rahul und Raphael an den Kommunikationsgeräten arbeiteten. Rahul stand über einem Monitor, ihre Stirn in tiefe Falten gelegt, während sie mit dem Zeigefinger gegen das Gehäuse klopfte. Neben ihr stand Raphael, die Arme verschränkt, mit einem Ausdruck von kontrollierter Sorge.
„Hanna,“ begann Rahul, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, „du solltest dir das ansehen.“ Ihre Stimme klang wie die eines Wissenschaftlers, der gerade etwas entdeckt hatte, das mehr Fragen als Antworten aufwarf.
Hanna erhob sich, und je näher sie dem Tisch kam, desto schwerer schien die Luft zu werden. Es war, als ob die Daten auf den Bildschirmen eine physische Präsenz hatten – eine unsichtbare Schwere, die sich in ihrem Magen festsetzte. Rahul vergrößerte ein Bild auf dem Hauptmonitor, und Hannas Atem stockte.
Auf dem Bildschirm erschien ein labyrinthartiges Symbol, fast identisch mit dem Muster auf ihrem Amulett. Doch das Symbol war nicht starr: Es flimmerte, pulsierte, als ob es atmete, als ob es lebendig wäre. Ein leises, elektrisches Surren begleitete jede Bewegung auf dem Bildschirm, und Hanna spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.
„Woher kommt das?“ fragte sie, ihre Stimme brüchiger, als sie es wollte.
„Es hat sich in eines unserer isolierten Systeme eingeschleust,“ erklärte Rahul, während ihre Finger über die Tastatur flogen. „Kein klarer Ursprung, keine erkennbare Spur. Es ist, als ob es einfach… erschienen wäre. Und das Merkwürdigste ist: Es ist keine reine Datenübertragung. Es ist fast… organisch.“ Sie hielt inne, und ihre Augen funkelten, gleichzeitig vor Faszination und Besorgnis. „Wie eine Botschaft, die nicht nur für uns gedacht ist, sondern speziell für dich.“
Raphael schnaubte leise. „Eine Botschaft? Das scheint mir eher wie eine Warnung.“
Hanna ignorierte ihn und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Rahul. „Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, was es bedeuten könnte?“
Rahul schüttelte den Kopf, ihre Kiefermuskeln angespannt. „Noch nicht. Aber jedes Mal, wenn das Symbol auftaucht, scheint es unsere Sicherheitsprotokolle zu belasten. Es ist, als ob es uns ablenken oder testen wollte.“
„Das heißt, sie wollen, dass wir es bemerken,“ murmelte Hanna, während ihre Augen auf das Symbol fixiert waren.
„Genau,“ sagte Rahul. „Und es ist kein Zufall, dass es jetzt auftaucht. Nach deinem Traum und…“ Sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach. „…dem Amulett.“
Raphael trat näher an den Tisch, seine Stimme leise, aber klar. „Hanna, das ist nicht normal. Sie wollen dich erreichen, das ist offensichtlich. Aber wir können nicht wie Marionetten auf jede Provokation reagieren. Es könnte eine Falle sein.“
Hanna spürte, wie der Druck in ihrer Brust zunahm. Es war keine bloße Angst, sondern eine Mischung aus Verantwortung, Unsicherheit und der Vorahnung von etwas Unausweichlichem. Sie atmete tief durch und straffte die Schultern. „Wir dürfen uns weder in Panik versetzen noch uns zurückziehen. Wir müssen verstehen, was das Symbol bedeutet – und warum es gerade jetzt auftaucht.“
Rahul nickte. „Ich werde weiter daran arbeiten. Vielleicht gibt es versteckte Metadaten oder verschlüsselte Hinweise, die wir übersehen haben.“
„Gut,“ sagte Hanna fest. „Raphael, stell sicher, dass unsere Systeme isoliert bleiben. Keine Verbindung nach außen, keine Schwachstellen.“
Raphael nickte knapp. „Verstanden.“
Ein plötzliches Summen unterbrach ihre Unterhaltung. Alle drei drehten sich zur Eingangstür. Das Summen hatte eine tiefe, vibrierende Qualität, die durch die Stille des Lofts schnitt. Raphael zog instinktiv ein kleines Messer aus seiner Jackentasche, während Rahul mit wenigen Handgriffen eine Kameraansicht der Tür auf den Bildschirm brachte.
Ein Bote stand auf der anderen Seite, gekleidet in einen makellosen schwarzen Anzug. Weiße Handschuhe bedeckten seine Hände, und in diesen hielt er einen versiegelten Umschlag. Das goldene Wachssiegel darauf schimmerte im gedämpften Licht. Der Bote war vollkommen reglos, seine Haltung steif und unnatürlich. Selbst sein Atem war nicht zu sehen, obwohl die Luft kühl war.
„Das ist… seltsam,“ murmelte Rahul, ihre Stimme angespannt.
Hanna bewegte sich zur Tür, ihre Schritte vorsichtig. Sie öffnete einen Spalt, gerade genug, um den Umschlag entgegenzunehmen. Der Bote sagte kein Wort, machte nur eine leichte Verbeugung und verschwand, als ob er sich in Luft aufgelöst hätte. Hanna schloss die Tür und betrachtete den Umschlag. Das labyrinthartige Symbol auf dem Siegel ließ ihren Magen sich zusammenziehen.
Mit zitternden Fingern brach sie das Siegel und zog die Karte heraus. Die Buchstaben darauf waren kunstvoll, fast hypnotisch:
„Zum Karneval der Schatten geladen.
Wo Wahrheiten enthüllt und Masken fallen.
Folge dem Weg der Masken.“
Darunter stand eine Uhrzeit: Mitternacht. Und eine Adresse, die Hanna fremd war. Sie reichte die Karte an Rahul und Raphael, die sie schweigend lasen.
Raphael sprach zuerst. „Das ist eine Falle.“
„Oder eine Einladung,“ erwiderte Hanna, ihre Stimme ruhig, doch innerlich tobte ein Sturm. Die Worte auf der Karte, das Symbol, das Amulett – alles fügte sich zu einem Bild zusammen, das sie nicht ignorieren konnte.
„Hanna,“ begann Raphael erneut, doch sie hob die Hand, um ihn zu unterbrechen.
„Ich weiß, was du sagen willst. Aber wir können es uns nicht leisten, das zu ignorieren. Es könnte die Antworten enthalten, nach denen wir suchen.“
Raphael schüttelte den Kopf. „Oder es bringt uns alle in Gefahr.“
„Deswegen werde ich vorsichtig sein,“ sagte sie. „Rahul, kannst du die Karte auf versteckte Technologie untersuchen?“
„Natürlich,“ antwortete Rahul und nahm die Karte an sich. „Gib mir ein wenig Zeit.“
Hanna wandte sich wieder der Einladung zu. Die Worte „Wahrheiten enthüllt und Masken fallen“ hallten in ihrem Kopf wider. Sie wusste, dass der Karneval nicht nur ein Ort war – er war ein Versprechen. Ein Rätsel. Und vielleicht die letzte Chance, die Wahrheit hinter der Maske zu finden.