Kapitel 2 — Flüsternde Warnungen
Hanna
Die Morgensonne drang durch die hohen, unverhangenen Fenster des Lofts und warf lange, scharfe Schatten über den Raum. Der leichte Duft von frisch gebrühtem Kaffee vermischte sich mit dem subtilen Summen der Technik, das wie ein ständiger Puls durch den Raum vibrierte. Es war ein Ort, der Zweckmäßigkeit mit improvisierter Eleganz verband: Alte, schwere Holztische waren mit Laptops, Notizen und Karten bedeckt, während digitale Displays an den Wänden Datenströme und Diagramme in ständigem Fluss zeigten. Ein Hauch von Wärme lag in der Luft, doch darunter befand sich die unmissverständliche Schwere von Anspannung.
Hanna saß an einem der Tische, die Stirn in Falten gelegt, während sie über ein zerknittertes Notizblatt gebeugt war. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu dem Traum zurück, der sich wie ein dunkler Schatten auf ihre Seele gelegt hatte. Die Worte „Die Wahrheit hinter der Maske“ hatten sich in ihr Bewusstsein gebrannt, ein unaufhörliches Echo, das sie nicht abschütteln konnte. Das Amulett, das sie einst abgelegt hatte, lag wieder auf ihrem Nachttisch – kalt, stumm, und doch voller unausgesprochener Drohungen. Die Verbindung zwischen Traum, Vergangenheit und Gegenwart war beunruhigend klar, und dennoch blieb sie unverständlich. Sie spürte, dass die Last ihrer Rolle schwerer wurde, drückender, als hätte eine unsichtbare Hand ihre Schultern noch tiefer hinabgedrückt.
Ein leises Knarren ließ sie aufblicken. Die Tür zum Loft öffnete sich, und Rahul trat ein, ein Tablet in der einen Hand, die andere tief in die Tasche ihrer abgenutzten Jacke geschoben. Ihre Augen waren wachsam, und der erste Eindruck von Zielstrebigkeit wurde durch die feine Linie der Besorgnis in ihrer Miene unterstrichen. Sie hielt inne, ließ ihren Blick kurz durch den Raum schweifen, als würde sie die Atmosphäre prüfen, bevor sie sich zielgerichtet auf Hanna zubewegte.
„Hanna, wir haben ein Problem“, sagte Rahul ohne Umschweife. Ihre Stimme war ruhig, doch die Dringlichkeit dahinter war unüberhörbar. Sie ließ das Tablet mit einer energischen Bewegung auf den Tisch gleiten, die fast lautlos wirkte, und schob es zu Hanna.
Hanna lehnte sich vor und ließ ihren Blick über die Daten auf dem Bildschirm wandern. Linien von Code, schematische Netzwerke und Zahlenreihen flimmerten in einem geordneten Chaos über die Oberfläche. „Was genau sehe ich hier?“ fragte sie, obwohl sich bereits ein beklemmendes Gefühl in ihrem Inneren regte.
Rahul zog einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. Sie tippte mit schnellen Fingern auf das Tablet, um die Daten zu verdeutlichen. „Jemand versucht, sich in unsere Kommunikationskanäle einzuklinken. Und ich rede nicht von Amateurhacks – das hier ist präzise, methodisch und auf eine Art und Weise ausgeführt, die ich so noch nie gesehen habe. Sie verwenden Algorithmen, die verdächtig vertraut wirken – sie ähneln denen, die die ‚Stille‘ einst genutzt hat, nur… weiterentwickelt.“
Hanna spürte, wie sich ein unangenehmer Knoten in ihrem Magen bildete. „Weiterentwickelt?“ Ihre Stimme klang ruhig, doch innerlich spürte sie die leise Welle wachsender Sorge.
„Ja“, bestätigte Rahul. „Sie haben die alten Angriffsmuster aufgegriffen und sie an neuere Technologien angepasst. Was auch immer wir einführen, sie scheinen bereits einen Schritt voraus zu sein. Es ist fast so, als würden sie uns direkt beobachten.“
Noch bevor Hanna antworten konnte, öffnete sich die Tür erneut, und Raphael trat ein. Sein schlichter, praktischer Kleidungsstil verstärkte den Eindruck von Kontrolle und Wachsamkeit. Er bewegte sich ruhig und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, die ihn immer wie den Anker der Gruppe wirken ließ. Seine Augen musterten den Raum, bevor sie bei Rahul und Hanna verharrten. Mit einem leichten Nicken trat er an den Rand des Tisches.
„Was gibt’s?“ fragte er in seinem gewohnt nüchternen Ton, der jedoch einen Hauch von Anspannung nicht verbergen konnte.
„Unsere Kommunikationskanäle werden angegriffen“, erklärte Rahul und schob das Tablet zu ihm. „Das hier ist mehr als ein Standardangriff. Es ist gezielt. Als ob jemand genau wüsste, wie wir arbeiten.“
Raphael überflog die Daten ohne erkennbare Gefühlsregung, doch seine Finger berührten das Tablet leicht, fast wie ein Zeichen von Nachdenklichkeit. „Das heißt, wir haben zwei mögliche Szenarien. Entweder sind noch Überreste der ‚Stille‘ aktiv…“
„…oder wir haben es mit einer völlig neuen Bedrohung zu tun“, vollendete Hanna seinen Gedanken. Ihre Stimme war klar, doch innerlich spürte sie die Unruhe wie eine dunkle Wolke aufziehen. „Rahul, ist es möglich, die Quelle zu lokalisieren?“
Rahul schüttelte den Kopf, ihre Lippen zu einem schmalen Strich gepresst. „Nicht direkt. Sie verwenden eine Art Verschleierungstechnik, die wie ein Labyrinth wirkt. Jeder Versuch, sie zu verfolgen, führt uns nur wieder zurück auf uns selbst. Es ist, als ob sie sich in einem Netzwerk von Spiegeln verstecken.“
Die Worte ließen Hannas Gedanken kurz zu ihrem Traum zurückkehren – ein weiterer Spiegel, der Wahrheiten verbarg, die sie noch nicht zu entschlüsseln vermochte. Sie schüttelte die Erinnerung ab und richtete den Blick auf Raphael, der mit gerunzelter Stirn die Daten betrachtete.
„Wenn sie uns beobachten, wissen sie zumindest teilweise, was wir planen“, sagte er schließlich. Seine Stimme war ruhig, doch ein kaum wahrnehmbares Zögern schwang darin mit. „Wir müssen unsere Sicherheitsmaßnahmen sofort verstärken. Verschlüsselung, isolierte Arbeitsplätze – und wir sollten falsche Spuren legen. Wenn sie uns finden wollen, dann sollen sie sich in einem Labyrinth aus Daten verirren.“
„Gut“, sagte Hanna und nickte knapp. „Rahul, konzentriere dich darauf, ihre Technik zu entschlüsseln. Selbst der kleinste Hinweis könnte entscheidend sein. Raphael, kümmere dich um die Sicherheitsvorkehrungen. Wir müssen unsere Pläne schützen.“ Sie hielt inne, ihre Augen wanderten zwischen den beiden hin und her. „Ich werde mir die Zeit nehmen, alles noch einmal zu überprüfen. Wir dürfen keinen Fehler machen.“
„Und du?“ fragte Rahul nachdenklich. Ihre Stimme war leise, doch ihre Augen verrieten Sorge. „Du wirkst… abgelenkt.“
Hanna schwieg einen Moment, den Blick auf den Tisch vor sich gerichtet. Schließlich hob sie den Kopf und sprach, ihre Stimme unsicherer, als sie es von sich gewohnt war. „Ich… hatte einen Traum. Einen, der sich echter angefühlt hat als alles andere. Und dann war da das Amulett… es lag einfach da, auf meinem Nachttisch. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber… es fühlt sich an, als ob etwas zurückkehrt. Etwas, das ich nicht mehr umgehen kann.“
Raphael musterte sie mit einem Ausdruck, der zwischen Sorge und Abwägen schwankte. „Träume können mehr als Träume sein“, sagte er schließlich. „Vielleicht solltest du herausfinden, was sie dir sagen wollen.“
„Vielleicht“, stimmte Hanna leise zu. Aber die Realität des Moments ließ keinen Raum für Rätsel. Sie richtete sich auf, ihre Haltung wieder fest und entschlossen. „Im Moment zählt nur das Hier und Jetzt. Finden wir heraus, wer hinter diesen Angriffen steckt. Bevor sie uns zerstören.“
Rahul und Raphael nickten, und eine plötzliche, konzentrierte Energie erfüllte den Raum. Die Tastaturen klackerten, und die Bildschirme schienen in einem unruhigen Tanz von Datenströmen aufzuflackern. Hanna atmete tief durch, spürte die Last der Verantwortung auf sich wie nie zuvor.
In diesem Moment fiel ihr Blick auf das Display eines der Monitore. Ein einziges Symbol erschien auf einem der Datenstränge, kaum erkennbar, doch eindeutig: ein labyrinthartiges Muster, das sie viel zu gut kannte. Der Knoten in ihrem Magen zog sich zusammen. Es war keine einfache Bedrohung. Es war eine Botschaft.
Die Wahrheit hinter der Maske. Dieses Flüstern hallte in ihrem Geist, ein drohendes Versprechen, dass sie bald nicht mehr ignorieren konnte.