reader.chapter — Sturz aus den Höhen
Anna Hartmann
Der Gerichtssaal war still, bis auf das gelegentliche Knistern von Papier und das leise Murmeln der Zuschauer. Anna Hartmann saß am Tisch der Verteidigung, den Blick auf die Akten vor sich gerichtet. Ihre hellblauen Augen waren ruhig, doch in ihrer Kühle lag eine fast unheimliche Entschlossenheit. Ihre Gegner wussten, dass sie ihre Worte mit messerscharfer Präzision wählen würde. Das hatte sie immer getan. Doch heute, an diesem Tag, war etwas anders.
Die Luft war schwer von unausgesprochenen Spannungen. Der Mandant, ein mächtiger Mann, der wegen Korruption angeklagt war, saß neben ihr. Sein massiger Körper lehnte sich zurück, ein Ausdruck von Geringschätzung auf seinem Gesicht. Er hielt sich für unantastbar – und vielleicht hatte er recht. Doch als er sich leicht zu Anna wandte und flüsterte, sein Tonfall eine Mischung aus Drohung und Lässigkeit, wurde ihr klar, dass dies nicht nur ein Prozess war. Es war eine Prüfung, ein Kampf um ihre Integrität.
„Frau Hartmann“, begann er leise, sodass nur sie ihn hören konnte, „es wäre ein Fehler, wenn Sie mich enttäuschen. Fehler haben Konsequenzen. Und ich bin sicher, das wollen wir beide vermeiden.“
Seine Worte waren süßlich und giftig zugleich, wie ein leises Zischen einer Schlange. Anna hob den Kopf, ihr Gesicht eine undurchdringliche Maske. Sie antwortete nicht, aber die Kälte in ihrem Blick ließ ihn verstummen. Sie wusste, dass sie ihn heute nicht verteidigen konnte. Nicht so. Nicht, wenn es bedeutete, ihre Prinzipien zu verraten.
Der Richter trat ein, und alle erhoben sich. Als die Sitzung begann, spürte Anna, wie alle Blicke auf sie gerichtet waren. Die Journalisten in der letzten Reihe kritzelten eifrig in ihre Notizblöcke, jede ihrer Bewegungen wurde analysiert. Es war nicht das erste Mal, dass sie im Rampenlicht stand, doch heute fühlte es sich anders an. Bedrohlicher.
Die Verhandlung nahm ihren Lauf. Der Staatsanwalt präsentierte die Beweise mit schneidender Stimme und einer fast triumphalen Sicherheit. Anna hörte seine Worte, doch ihre Gedanken drifteten ab. Sie erinnerte sich an die Worte ihres Vaters, der sie in ihrer Jugend oft ermahnt hatte, dass Integrität wichtiger sei als Erfolg. Sein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf – das sanfte Lächeln, die festen Überzeugungen. Diese Erinnerung trug sie nun, wie ein leiser, aber fester Anker.
Ihre Konzentration kehrte zurück, als die Aufmerksamkeit des Gerichtssaals auf sie fiel. Es war an ihr, zu sprechen. Sie spürte das Gewicht der Entscheidung, die sie getroffen hatte. Ein Schnappen von Kugelschreibern, das erwartungsvolle Raunen der Zuschauer. Der Mandant schaute sie an, seine Augen funkelten vor unterschwelliger Drohung. Anna atmete tief ein, spürte den festen Griff des Stuhls unter ihren Fingern, und begann.
„Eure Ehren“, sagte sie, ihre Stimme klar und unverhohlen bestimmt, „ich bin heute nicht in der Lage, diese Verteidigung fortzuführen.“
Ein Raunen ging durch den Saal. Der Mandant drehte sich abrupt zu ihr um, sein Gesicht verzerrt vor Zorn. „Was tun Sie da?“ zischte er, doch Anna ignorierte ihn.
„Ich habe ethische Bedenken, die mich daran hindern, meinem Mandanten die angemessene Verteidigung zu bieten, die er verdient.“ Sie sprach langsam, jedes Wort sorgfältig gewählt. „Aus diesem Grund bitte ich das Gericht, mich von diesem Fall zu entbinden.“
Für einen Moment war es, als hätte die Zeit angehalten. Der Richter schob seine Brille zurecht, seine Stirn in tiefe Falten gelegt. „Sind Sie sich der Tragweite Ihrer Bitte bewusst, Frau Hartmann?“ fragte er, seine Stimme eine Mischung aus Überraschung und Strenge.
„Ja, Eure Ehren.“ Ihre Stimme zitterte nicht. „Ich bin mir der Konsequenzen voll bewusst.“
Der Staatsanwalt schmunzelte, ein kaum merkliches, triumphales Zucken seiner Lippen. Die Zuschauer begannen, miteinander zu flüstern. Journalisten beugten sich vor, ihre Stifte bereit. Anna sah dem Richter direkt in die Augen, erwartete seine Entscheidung. Schließlich nickte er, schwerfällig, fast widerwillig.
„Ihr Antrag wird akzeptiert. Das Gericht entbindet Sie hiermit von dieser Pflicht.“
Anna fühlte keine Erleichterung, keinen Triumph. Nur die kalte Angst vor dem, was kommen würde.
***
Die Tür zu ihrer Wohnung in der Annastiftstraße fiel hinter ihr ins Schloss, und die Stille umfing sie wie eine kalte Umarmung. Der Regen hatte aufgehört, aber die Straßen glänzten noch feucht, und der Geruch von nassem Asphalt drang durch die gekippte Balkontür. Anna ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und lehnte sich gegen die Wand. Ihr Herz schlug noch immer schneller als gewöhnlich.
Die Schlagzeilen hatten sie überholt. „Prominente Anwältin tritt von umstrittenem Fall zurück“ lautete die Überschrift, die auf ihrem Smartphone aufleuchtete. Das grelle Licht des Bildschirms schnitt durch die Dunkelheit der Wohnung. Sie scrollte durch die Kommentare. Einige lobten ihre Integrität, andere nannten sie naiv. Wieder andere fragten, ob sie bestochen worden war.
Ein Kommentar ließ sie innehalten: „Das ist erst der Anfang. Sie wird schon sehen, was sie davon hat.“ Der Satz bohrte sich in ihren Kopf, ließ ihr Herz schneller schlagen. Anna legte das Handy beiseite, ihre Hände zitterten. Die Worte hallten in ihrem Inneren nach, wie eine unheimliche Prophezeiung.
Sie ging ins Wohnzimmer, ein spärlich möblierter Raum, der mehr funktional als gemütlich wirkte. Hochgewachsene Regale voller Bücher säumten die Wände, doch der Esstisch war leer, abgesehen von einem Laptop und einem Stapel Rechnungen. Neben dem Tisch stand ein alter, ungenutzter Aktenkoffer, ein Relikt aus ihrem früheren Leben. Sie griff nach einem Glas Wasser, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie es fast fallen ließ.
Ihre Gedanken wanderten. Sie sah sich selbst, wie sie einst in den Sitzungssälen ihrer Kanzlei stand, selbstbewusst, unantastbar. Jetzt war sie eine Außenseiterin, ihre Prinzipien wie eine dünne Rüstung, die sie kaum vor den Einschlägen schützte.
Ein leises Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sie erstarrte, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Wer würde um diese Uhrzeit klopfen? Vorsichtig näherte sie sich der Tür und spähte durch den Spion. Es war Clara.
Anna öffnete die Tür, und ihre Freundin stürmte herein, eine Flasche Wein in der Hand und ein entschlossenes Lächeln im Gesicht. „Ich wusste, dass du alleine bist“, sagte Clara, ohne eine Antwort abzuwarten. „Also habe ich uns etwas mitgebracht.“
„Clara, ich...“
„Kein Aber.“ Clara stellte die Flasche auf den Tisch und begann, nach zwei Gläsern zu suchen. „Du brauchst jemanden, der dich daran erinnert, dass du nicht allein bist.“
Anna setzte sich widerstrebend auf das Sofa und beobachtete, wie Clara das Glas füllte. Sie war dankbar für ihre Anwesenheit, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Wie sollte sie erklären, was in ihr vorging? Die Zweifel, die Angst, die Last der Einsamkeit?
„Weißt du noch, wie wir uns während des Studiums gegenseitig motiviert haben?“ sagte Clara plötzlich, als hätte sie Annas Gedanken gelesen. „Du hast immer gesagt, dass es besser ist, ehrlich mit sich selbst zu sein, als sich verbiegen zu lassen. Und genau das hast du getan.“
Anna nickte, schluckte schwer. „Aber ich habe alles verloren.“
„Vielleicht. Aber du hast dich nicht verloren.“ Clara nahm Annas Hand, fest und warm. „Und egal, was kommt, ich bin hier.“
Anna sah sie an, diese unerschütterliche Zuversicht in Claras Augen. Sie wollte ihr glauben. Doch irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene, und der Regen begann erneut. Sie wusste, dass dies erst der Anfang war. Der Sturz war schmerzhaft, doch das Aufstehen würde noch härter werden.