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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterFlüstern in der Dunkelheit


Anna Hartmann

Der Abendhimmel über Hamburg war in ein düsteres Grau getaucht, Wolken hingen schwer wie eine drohende Last über der Stadt. Die Straßenlampen warfen kaltes Licht auf die nassen Pflastersteine, während Anna langsam durch die Annastiftstraße ging, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Der Regen hatte nachgelassen, ließ jedoch eine klamme Kälte zurück, die sich durch die Kleidung bis in ihre Knochen fraß. Es war das erste Mal, dass sie seit dem Vorfall im Gerichtssaal wieder hinausgetreten war – und selbst jetzt fühlte sie sich von den Blicken der Welt verfolgt.

In ihrer Brust nagte die Unruhe wie ein rostiger Nagel. Der Kommentar, den sie gestern noch auf ihrem Handy gelesen hatte – diese unterschwellige Drohung –, brannte sich in ihr Gedächtnis ein wie eine unauslöschliche Narbe. „Man sieht sich immer zweimal“, hatte dort gestanden. Sie hatte Clara versprochen, sich nicht hineinsteigern zu lassen, doch jeder Schatten, jede plötzliche Bewegung auf der Straße ließ sie zusammenzucken. Ihre Schritte wurden schneller, als sie das vertraute Relief ihres Wohnhauses in der Ferne erblickte, ein Ort, der zwar nach Sicherheit aussehen mochte, ihr jedoch kaum noch Trost bot.

Im Treppenhaus ihres Altbaus knarrten die Stufen unter ihrem Gewicht, und das Echo ihrer Schritte hallte unheimlich durch den engen, dunklen Flur. Die Neonlampe flackerte über ihr, als sie ihre Wohnungstür erreichte und zitternd den Schlüssel ins Schloss schob. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, drückte sie sich mit dem Rücken dagegen und atmete zitternd aus. Es fühlte sich an, als hätte sie eine unsichtbare Last die ganze Zeit mit sich getragen, die sich nun für einen Moment von ihren Schultern löste.

Doch die Stille ihrer Wohnung war nicht beruhigend; sie war bedrückend. Die tickende Uhr auf dem Regal schien lauter als sonst, und das Summen des Kühlschranks drang wie ein unterschwelliges Dröhnen in ihre Ohren. Anna ließ ihren Mantel achtlos über die Stuhllehne gleiten und ging direkt zum Fenster, schob den Vorhang vorsichtig zur Seite. Die Straße war leer, nur das diffuse Licht der Laternen spiegelte sich auf dem glänzenden Asphalt. Doch Anna hatte das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden. Sie runzelte die Stirn, zog den Vorhang wieder zu und zog sich ins Wohnzimmer zurück.

Auf dem Tisch lag ein ungeöffneter Umschlag, den sie am Morgen beim Betreten des Hauses entdeckt hatte. Der Umschlag war schlicht, ohne Absender, nur ihr Name stand darauf, in einer eleganten, aber anonymen Handschrift. Seit Stunden schob sie es vor sich her, ihn zu öffnen. Jetzt, in der kühlen Einsamkeit ihrer Wohnung, schien er unvermeidlich. Mit zitternden Fingern riss sie das Siegel auf und zog eine Visitenkarte hervor.

„Leonard Bergmann“, las sie leise vor. Der Name war ihr nicht fremd, auch wenn sie ihn bisher nur flüchtig in Wirtschaftsnachrichten gehört hatte. Sie drehte die Karte in ihren Händen, ihre Fingerspitzen strichen über das schwere, hochwertige Papier. Außer der Adresse des Luxushotels „Kronenschloss“ in München und einer Zeit – Donnerstag, 20:00 Uhr – bot das Kärtchen keine weiteren Erklärungen. Kein Begleittext, keine Anrede. Nur diese kühle Präzision.

Anna spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Wer war dieser Mann? Und warum, um alles in der Welt, sollte er sie in solch einer Weise kontaktieren? Ihre Finger spielten nervös mit der Karte, während ihr Geist fieberhaft arbeitete. Das Hotel war eines der teuersten in ganz Europa – ein Ort, an dem nur die reichsten der Reichen verkehrten. Ihre Vernunft riet ihr, den Kontakt zu ignorieren, die Karte zu zerreißen und zu vergessen, dass sie jemals existiert hatte. Doch etwas in ihr, ein instinktiver Drang, flüsterte etwas anderes: Das war keine Einladung, die man leichtfertig ausschlug.

Ein leises Summen riss sie aus ihren Gedanken, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Ihr Handy vibrierte auf dem Tisch. Als sie es aufhob, starrte sie für einen Moment auf die unbekannte Nummer auf dem Display. Ihre Finger schwebten zögernd über dem Bildschirm, bevor sie das Gespräch annahm.

„Frau Hartmann“, sagte eine tiefe, ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie war klar und kontrolliert, doch jede Silbe schien sich wie Eis über Annas Haut zu legen. „Es wäre klug, sich von Leonard Bergmann fernzuhalten.“

Anna erstarrte. „Wer sind Sie?“ fragte sie, ihre Stimme schärfer, als sie es beabsichtigt hatte.

„Das spielt keine Rolle“, erwiderte die Stimme. „Aber er ist nicht, wer er zu sein vorgibt. Passen Sie auf, wem Sie vertrauen.“

„Was soll das heißen?“ presste Anna hervor, aber da war die Leitung bereits tot. Sie starrte auf den Bildschirm, das Schweigen dröhnte in ihren Ohren. Langsam legte sie das Telefon zurück auf den Tisch, ihre Hand zitterte leicht. Da war es wieder, dieses Gefühl der Bedrängnis, die Unsichtbarkeit der Bedrohung, die sie aus allen Richtungen zu beobachten schien. Der Raum fühlte sich plötzlich kühler an, bedrückend und fremd.

Am nächsten Morgen hatte sie kaum geschlafen, als sie sich mit einem Becher Kaffee an ihren Laptop setzte und „Leonard Bergmann“ in die Suchmaschine eingab. Die Ergebnisse überfluteten sie sofort. Berichte über Fusionen und Milliardenprojekte, Artikel über seine exklusive Lebensweise, Gerüchte über politische Verbindungen. Ein Mann, dessen Macht und Einfluss kaum zu messen waren. Doch selbst in den detailliertesten Berichten klafften Lücken, wie blinde Flecken, die absichtlich offen gelassen wurden. Es war, als hätte jemand darauf geachtet, dass seine Spuren nicht vollständig nachzuvollziehen waren.

„Leonard Bergmann“, murmelte sie, während sie ein Porträtfoto betrachtete. Es zeigte ihn in einem perfekt sitzenden Designeranzug, mit markantem Gesicht und einem durchdringenden Blick. Es war ein Gesicht, das Vertrauen und zugleich Gefahr ausstrahlte. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken immer wieder zu seinem Namen zurückkehrten.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. Sie schob den Laptop beiseite und ging zur Tür. Clara stand davor, mit einer Tüte Brötchen und zwei dampfenden Kaffeebechern. Ihr Lächeln war gewohnt warm, doch heute schien es von Annas Anspannung kaum durchzudringen.

„Hey“, sagte Clara, als sie die Wohnung betrat. „Ich dachte, du könntest etwas Gesellschaft gebrauchen.“

„Clara...“, begann Anna, unsicher, wie sie die wirbelnden Gedanken in Worte fassen sollte. Doch Clara winkte ab, als wüsste sie bereits, was kommen würde.

„Ich habe die Schlagzeilen gelesen“, sagte sie, während sie die Tüte auf den Tisch stellte. „Und ich weiß, dass du gerade alles andere als klar denken kannst.“

Anna ließ sich gegenüber von ihr nieder und umklammerte die heiße Tasse. „Es ist nicht nur das. Da ist... jemand hat versucht, mich zu kontaktieren.“ Sie zog die Visitenkarte hervor und legte sie auf den Tisch. „Weißt du, wer das ist?“

Claras Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie den Namen las. „Leonard Bergmann? Ja, natürlich. Der Typ ist in der Wirtschaft ein großer Name. Aber was will er von dir?“

„Das frage ich mich auch“, sagte Anna. Sie zögerte, dann sprach sie leise weiter: „Und dann war da noch dieser seltsame Anruf. Jemand hat mich gewarnt, vorsichtig zu sein. Es wird immer... unheimlicher.“

Clara legte eine Hand auf Annas, ihre Miene ernst. „Anna, du musst wirklich aufpassen. Wer auch immer dieser Mann ist, er ist nicht irgendwer. Und wenn Leute wie er sich für dich interessieren, hat das selten einen simplen Grund.“

Anna nickte, doch anstelle von Antworten fühlte sie nur weitere Fragen in sich aufsteigen. Wer war Leonard Bergmann wirklich? Und was suchte er ausgerechnet bei ihr? Sie wusste, dass sie nicht ewig in der Dunkelheit bleiben konnte, doch jede mögliche Entscheidung schien eine andere Gefahr mit sich zu bringen.

Als der Tag sich in die Dämmerung neigte, blieb Anna allein zurück. Clara war bereits gegangen, die Wohnung war wieder still. Die Visitenkarte lag noch immer auf dem Tisch, ein stummer Zeuge ihrer Unentschlossenheit. Sie starrte sie an, als könnte sie ihr die Antwort entlocken. Schließlich griff sie nach dem Telefon und wählte die Nummer, die auf der Hotelwebsite angegeben war.

„Luxushotel Kronenschloss, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ fragte eine höfliche Stimme am anderen Ende.

Anna atmete tief ein. „Ich möchte eine Nachricht für Herrn Leonard Bergmann hinterlassen“, sagte sie, ihre Stimme überraschend klar und fest. „Sagen Sie ihm, dass ich seine Einladung annehme.“