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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterDas verlockende Angebot


Anna Hartmann

Die Reise nach München verlief für Anna wie ein Gang durch dichten Nebel. Der ICE glitt in rasanter Geschwindigkeit durch die spätsommerliche Landschaft, doch die vorbeiziehenden Felder, Wälder und Städte blieben unsichtbar für sie. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um die Visitenkarte in ihrer Manteltasche. „Leonard Bergmann.“ Der Name hallte in ihrem Bewusstsein wider, wie ein hartnäckiger Ohrwurm, der sie nicht loslassen wollte. Wer war dieser Mann wirklich? Was wollte er von ihr? Und warum jetzt, wo ihr Leben in Scherben lag?

In einer stillen Reflexion überlegte sie, wie leicht es gewesen wäre, einfach nicht zu kommen. Aber die Drohungen und Warnungen, die sie erhalten hatte, drängten sie seltsamerweise erst recht dazu, Antworten zu suchen. Dazu kam der nagende Gedanke an ihre finanzielle Situation – und die Aussichtslosigkeit, die sie in Hamburg hinterlassen hatte. Jede rationale Stimme in ihrem Kopf hatte geschrien, dass sie nein sagen sollte. Doch etwas anderes, ein instinktiver, nicht greifbarer Drang, hatte sie zur Entscheidung geführt, der Einladung zu folgen. Vielleicht war es die Möglichkeit, eine Spur von Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, die sie in Aktion versetzt hatte.

Als sie um Punkt 19:30 Uhr in der Lobby des Luxushotels „Kronenschloss“ stand, schien diese Entscheidung plötzlich wie ein Fehler. Die Opulenz des Ortes war überwältigend. Marmorne Säulen ragten in die Höhe, die goldenen Akzente der Einrichtung funkelten unter dem Licht prunkvoller Kronleuchter. Doch trotz des Prunks lag eine seltsame Kühle in der Luft. Anna konnte nicht umhin, die makellose Perfektion um sie herum mit einem Hauch von Kontrolle und Überwachung zu assoziieren – wie bei einem Ort, der nichts dem Zufall überließ.

„Frau Hartmann?“ Die klare, professionelle Stimme einer perfekt gestylten Rezeptionistin riss sie aus ihren Gedanken. Das Lächeln der Frau war tadellos, doch Anna spürte den subtilen Hauch von Überheblichkeit, der in ihrem Blick lag. „Herr Bergmann erwartet Sie in der Suite 1703. Der Fahrstuhl befindet sich gleich dort drüben.“ Die Angestellte deutete mit einer makellosen Bewegung auf den Aufzug. Anna nickte nur knapp, während ihre Handflächen feucht wurden.

Der Fahrstuhl glitt lautlos nach oben, und mit jeder Etage, die sie höher trug, spürte Anna, wie die Anspannung in ihr zunahm. Sie fühlte sich wie eine Schachfigur, die in ein Spiel gezogen wurde, dessen Regeln sie nicht kannte. Ihre Gedanken überschlugen sich – wer war Leonard Bergmann wirklich? Warum hatte er ausgerechnet sie ausgewählt? Und was erwartete sie dort oben in dieser Suite?

Als die Türen mit einem sanften Geräusch aufglitten, fand sie sich vor einer massiven Doppeltür aus dunklem Holz wieder. Kurz schloss sie die Augen, atmete tief durch und klopfte an. Die Sekunden, die vergingen, erschienen ihr wie eine Ewigkeit.

Die Tür öffnete sich, und da war er. Leonard Bergmann. Er war größer, als sie erwartet hatte, und seine Präsenz füllte den Raum. Der perfekt geschnittene Anzug saß wie eine zweite Haut, und seine dunklen Augen fixierten sie mit einer Mischung aus Neugier und Kalkül, die sie gleichzeitig aufwühlte und abschreckte.

„Frau Hartmann“, begrüßte er sie mit einer Stimme, die ruhig und kontrolliert war, aber dennoch eine nicht greifbare Intensität ausstrahlte. Er trat zur Seite und lud sie mit einer geschmeidigen Geste ein, einzutreten.

Die Suite war eine Welt für sich. Die raumhohen Fenster boten einen atemberaubenden Blick auf die funkelnde Skyline Münchens, während die Einrichtung minimalistischen Luxus verkörperte. Dunkles Holz, cremefarbene Polster und dezente goldene Akzente schufen eine Atmosphäre von Eleganz, die fast einschüchternd war. Ein subtiler Duft von Leder, teurem Cognac und einer Zitrusnote hing in der Luft. Anna fühlte sich deplatziert, wie ein Fremdkörper in einem makellos orchestrierten Bild.

„Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.“ Leonard deutete auf eine Sitzgruppe neben einem kleinen Kamin, in dem ein künstliches, aber warmes Feuer flackerte. „Bitte, nehmen Sie Platz.“

Anna setzte sich auf die Kante des Sofas, ihre Haltung angespannt und kontrolliert. Leonard ließ sich in einen gegenüberliegenden Sessel sinken, jede Bewegung fließend und unaufdringlich. Einen Moment lang betrachtete er sie schweigend, seine Fingerkuppen leicht aneinandergelegt. Sein Blick war durchdringend, als würde er jede Schicht ihrer Gedanken und Geheimnisse durchdringen.

„Ich nehme an, Sie fragen sich, warum ich Sie hierhergebeten habe“, begann er schließlich mit einem leichten Lächeln, das sowohl geheimnisvoll als auch berechnend wirkte.

„Das wäre eine Untertreibung“, erwiderte Anna trocken, überrascht von der Festigkeit ihrer eigenen Stimme.

Leonard lehnte sich leicht zurück. „Ich schätze Direktheit. Also werde ich nicht um den heißen Brei reden. Ich habe ein Angebot für Sie, Frau Hartmann. Ein Angebot, das Ihre gegenwärtigen Probleme lösen und Ihnen neue Möglichkeiten eröffnen könnte.“

Anna runzelte die Stirn und versuchte, nicht zu viel von ihrem inneren Unwohlsein zu zeigen. „Ein Angebot? Ich verstehe nicht...“

„Ich möchte, dass Sie meine Verlobte spielen“, sagte er mit der Ruhe eines Mannes, der gewohnt war, dass seine Worte nicht infrage gestellt wurden.

Die Worte trafen Anna wie ein Schlag, und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Augen sich weiteten. „Was?“

„Natürlich nicht wirklich“, fuhr er in derselben ungerührten Tonlage fort. „Es wäre eine Vereinbarung auf Zeit. Ein Arrangement. Sechs Monate, in denen Sie bei gesellschaftlichen und geschäftlichen Veranstaltungen an meiner Seite wären. Sie wären ein Teil meines Lebens – zumindest in der Öffentlichkeit.“

Anna schüttelte den Kopf, unfähig, das Gehörte zu verarbeiten. „Und warum, um alles in der Welt, sollten Sie das wollen?“

Ein Schatten huschte über sein Gesicht, bevor seine Miene wieder kontrolliert war. „In meiner Welt ist das Bild, das man nach außen projiziert, oft wichtiger als die Realität. Eine Verlobung – wie ich sie vorschlage – würde mein Image stärken und gewisse geschäftliche Strategien absichern.“

„Das ergibt keinen Sinn“, sagte Anna leise, ihre Stimme von Skepsis durchzogen. „Warum ich?“

Leonard beugte sich leicht vor, sein Blick schärfer. „Weil Sie anders sind. Sie haben Rückgrat bewiesen, Frau Hartmann. Sie haben Prinzipien. Und Sie sind eine Unbekannte – genau das, was ich brauche. Niemand wird Sie als eine Schwachstelle wahrnehmen.“

Anna lachte trocken. „Das klingt ja alles fabelhaft schmeichelhaft. Aber ich habe nicht vergessen, dass ich diese Einladung inmitten von Drohungen und Warnungen erhalten habe. Warum sollte ich mich auf so etwas einlassen?“

Leonard betrachtete sie für einen Moment, und sie meinte, so etwas wie Respekt in seinem Blick zu erkennen. „Weil ich Ihnen im Gegenzug anbieten kann, Ihre Reputation wiederherzustellen. Ihre Karriere. Sie stehen vor einem Abgrund, Frau Hartmann. Ich biete Ihnen eine Rettungsleine.“

Anna fühlte, wie ihre Brust sich zusammenzog. Seine Worte waren wie ein zweischneidiges Schwert – sowohl eine Verlockung als auch eine unausgesprochene Drohung.

„Ich werde... darüber nachdenken“, sagte sie schließlich leise.

Leonard nickte knapp. „Das ist alles, worum ich bitte.“

Als sie zur Tür ging, hielt sie inne und sah ihn direkt an. „Warum sollte ich Ihnen vertrauen?“

Leonard lächelte, und diesmal schien das Lächeln einen Hauch von Wärme zu tragen. „Ich würde nicht erwarten, dass Sie das tun. Doch ich hoffe, dass Sie es irgendwann können.“

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, fühlte Anna sich wie in einem Taumel. Der Aufzug brachte sie zurück in die erdrückende Opulenz der Hotellobby, während das Gewicht seines Angebots schwer auf ihren Schultern lastete. Sie wusste, dass ihre Entscheidung – wie auch immer sie ausfallen würde – ihr Leben für immer verändern würde.