Kapitel 3 — Blicke aus der Dunkelheit
Damien
Die Geräusche des verfallenen Industriekomplexes hallten in Damiens Ohren wider, als er die Halle verließ. Der süßlich-faulige Geruch von Rost und Öl hing schwer in der Luft, doch Damien ließ sich davon ebenso wenig ablenken wie von der Kälte, die durch seinen maßgeschneiderten Mantel drang. Die Begegnung war so verlaufen, wie er es erwartet hatte: voller Misstrauen und unausgesprochener Drohungen. Seine Begleiter folgten ihm in angemessenem Abstand, schweigend. Kein Wort war nötig, um die Spannungen zwischen ihnen zu erklären.
Doch etwas war anders gewesen – ein leises Ziehen in den Schatten, ein kaum wahrnehmbares Kribbeln entlang seiner Nackenmuskeln. Damien war nicht allein gewesen. Das Wissen war wie eine Woge durch seinen Körper gegangen, unaufdringlich und dennoch unübersehbar. Er hatte es gespürt, auch wenn der unerfahrene Iwan mit seinem plumpen Revolver nichts bemerkt hatte. Eine Präsenz hatte die Luft geschärft, einen unruhigen Puls in seiner Umgebung erzeugt. Damien war nicht der Typ, der sich von bloßen Instinkten leiten ließ, doch in seinen Jahren im Shadow Syndikat hatte er gelernt, solche Wahrnehmungen ernst zu nehmen.
Er blieb stehen, die polierte Oberfläche seiner Lederschuhe reflektierte das schwache Licht einer zerbrochenen, flackernden Lampe. Die Männer hinter ihm hielten ebenfalls inne, die Stille zwischen ihnen war von einer nervösen Erwartung durchzogen. Damien hob die Hand, eine stumme Geste, die ihnen bedeutete, weiterzugehen.
„Sichert den Ausgang“, sagte er mit seiner üblichen, kontrollierten Ruhe. Sein Ton ließ keine Diskussion zu.
Die Männer schwiegen und verschwanden in die Dunkelheit, ihre Schritte verhallten im Echo der weiten Halle. Damien drehte sich langsam um und ließ seinen Blick durch die Schatten gleiten. Die Dunkelheit schien zu atmen, ein lebendiges Wesen, das Geheimnisse barg, die er entschlüsseln musste. Seine grauen Augen, kalt wie Stahl, nahmen jedes Detail auf – die rostigen Metallträger, die verblichenen Graffiti an den Wänden, die zerbrochenen Fensterscheiben, durch die der schwache Mondschein fiel. Ein schwaches Geräusch, vielleicht ein Tropfen Wasser, ließ ihn kurz innehalten, bevor er sich wieder entspannte.
„Wer auch immer hier ist“, sagte er, seine Stimme hart und präzise wie eine Klinge, „Sie haben meinen vollen Fokus.“
Er wartete eine Sekunde, zwei, drei. Kein Geräusch, außer dem fernen Tropfen von Wasser und dem leisen Wispern des Windes, der durch die Ritzen des Gebäudes zog. Damien stieß einen leisen Atemzug aus, ein Zeichen seiner wachsenden Frustration. Er war kein Mann, der es mochte, blind zu sein. Doch es war klar: Wer immer sich in seiner Nähe befand, war entweder sehr dumm oder außergewöhnlich klug.
Ein Gedanke blitzte auf, ungebeten: Viktors Gesicht, mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung gezeichnet. Jahre waren vergangen, aber der Schmerz hatte sich nicht abgenutzt. War diese Präsenz ein Schatten aus seiner Vergangenheit – oder etwas Neues, das auf ihn wartete? Er schüttelte die Erinnerung ab, wie man Regen von einem Mantel abschüttelt, und wandte sich ab.
Als er den Komplex verließ, trat er absichtlich langsamer auf, erlaubte seinen Schritten, etwas lauter zu hallen, als es seine Gewohnheit war. Es war ein Spiel, eines, das er nur selten spielte, aber es war notwendig. Er wollte wissen, ob sie ihm folgen würde.
**
Zurück in seinem Penthouse, hoch über der Stadt, ließ Damien die Ereignisse der Nacht noch einmal Revue passieren. Das Geräusch eines Tropfens, das leise Klicken eines Kameraauslösers – so subtil, dass es vielleicht niemand anderem aufgefallen wäre. Doch Damien registrierte alles.
Er stützte sich auf die massive Glasbrüstung seines Balkons und ließ seinen Blick über die pulsierende Stadt unter ihm schweifen. Berlin war ein Kaleidoskop aus Licht und Dunkelheit, ein Spielplatz für jene, die das Chaos zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Und Damien war einer der besten.
Seine rechte Hand ruhte auf dem glatten Holzgeländer, während die andere ein Glas Whisky hielt. Die goldene Flüssigkeit fing die Reflexionen der Stadtlichter ein, als wollte sie ihre eigene Geschichte erzählen. Er nahm einen Schluck, ließ die Wärme durch seine Kehle bis in die Brust sickern, bevor er das Glas auf die Balustrade stellte.
Warum war sie dort gewesen? Wer war sie? Die Fragen nagten an ihm, ein seltener Zustand für jemanden, der gewohnt war, die Antworten zu kennen, bevor die Fragen überhaupt gestellt wurden.
„Rudolph“, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Ein Mann trat aus den Schatten des Wohnzimmers, leise wie ein Geist, seine Anwesenheit kaum mehr als ein Flüstern. Rudolph war ein erfahrener Beobachter mit einer unauffälligen Erscheinung, die ihn perfekt für seinen Beruf als Informant machte.
„Ja, Herr Reich?“
„Ich brauche Informationen über jemanden. Möglichst schnell.“
„Wen?“ Rudolphs Tonfall war neutral, doch aus seinem Blick sprach Interesse.
Damien schwieg eine Sekunde, dann wandte er sich um, die grauen Augen durchdringend. „Ich weiß es noch nicht. Aber sie war heute Nacht im Industriekomplex. Eine Frau. Beobachterin, vermutlich allein. Sie hat sich geschickt bewegt.“
Ein leises Schmunzeln huschte über Rudolphs Gesicht, kaum wahrnehmbar. „Eine Frau, die sich in Ihre Geschäfte einmischt? Das klingt nach jemandem, der entweder sehr mutig oder sehr dumm ist.“
Damien ließ die Bemerkung unkommentiert, seine Miene blieb unbewegt. „Finde sie.“
Rudolph nickte. „Wird erledigt.“ Er verschwand so leise, wie er gekommen war, aber nicht ohne einen letzten Blick auf Damien zu werfen, als wollte er mehr aus dessen Haltung lesen.
Damien drehte sich wieder zur Stadt, sein Blick fixierte sich auf einen Punkt in der Ferne. Wer auch immer diese Frau war, sie hatte ein Risiko auf sich genommen, das die meisten nicht einmal in Betracht zogen. Sie hatte beobachtet, gewartet – und nicht eingegriffen. Das irritierte ihn.
Er konnte Verrat riechen, hatte gelernt, ihn zu erkennen, noch bevor er sich manifestierte. Doch diese Frau ... sie war keine Amateurin. Ihre Bewegungen, ihre Wahl der Verstecke – alles deutete darauf hin, dass sie wusste, was sie tat. Und trotzdem war sie nicht unfehlbar gewesen. Er hatte sie bemerkt, auch wenn sie alles darangesetzt hatte, unsichtbar zu sein.
Ein leises Brummen riss ihn aus seinen Gedanken. Rudolph stand mit einem Tablet in der Hand da, das Display hell im schummrigen Licht des Penthouses.
„Überwachungskameras in der Umgebung des Komplexes weisen auf eine Person hin. Weiblich, Kapuze, allein unterwegs. Allerdings ... keine klaren Aufnahmen. Sie hat die Hauptstraßen gemieden, ist die meiste Zeit in den Schatten geblieben.“ Rudolph reichte Damien das Tablet. „Ich werde herausfinden, wer sie ist. Geben Sie mir etwas Zeit.“
Damien nahm den Bildschirm entgegen und betrachtete die verschwommene Gestalt. Sein Kiefer spannte sich an, während er die Bilder durchging. Es war nicht viel, doch es bestätigte, was er bereits wusste: Diese Frau war vorsichtig, aber nicht perfekt.
„Tu das“, sagte er schließlich und reichte das Tablet zurück. Rudolph verschwand erneut, lautlos wie ein Schatten, und ließ Damien allein zurück.
Er griff nach seinem Whiskyglas und leerte es mit einem einzigen Zug. Die Wärme des Alkohols durchflutete ihn, doch sie konnte die Kälte nicht vertreiben, die sich in seine Gedanken eingenistet hatte.
„Wer bist du?“, murmelte er zu sich selbst. „Und was willst du von mir?“
Die Nacht schien keine Antworten zu bringen, nur mehr Fragen. Doch Damien wusste eines mit Sicherheit: Diese Frau war kein Zufall. Sie war ein Teil des Spiels, und er würde herausfinden, welche Rolle sie in seinem Leben zu spielen hatte – ob als Feindin, als Verbündete oder als etwas, das er noch nicht zu definieren wagte.
Das Glas landete mit einem dumpfen Klirren auf dem Tisch, als Damien sich abwandte und in die Dunkelheit seines Penthouses verschwand. Morgen würde er Antworten haben. Oder zumindest den ersten Schritt machen, um sie zu finden.