Kapitel 2 — Ein gefährlicher Verdacht
Adelina
Die kühle Nachtluft schnitt wie ein Messer, als Adelina ihre Kapuze tiefer ins Gesicht zog. Der Regen hatte nachgelassen, doch die Straßen glänzten noch von der Feuchtigkeit und warfen das fahle Licht der Straßenlaternen zurück. Ihr Ziel, der verfallene Industriekomplex, lag am Rand der Stadt, abgelegen und von der Dunkelheit verschluckt. Kein Ort, an dem man sich freiwillig aufhielt – es sei denn, man hatte etwas zu verbergen. Oder etwas zu finden.
Adelinas Schritte waren leise, fast lautlos auf dem nassen Asphalt. Ihr Herz pochte gleichmäßig, während sie die Umgebung scannte. Jeder Schatten, jedes Geräusch wurde von ihr registriert und analysiert. Sie wusste, dass sie allein war, doch das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie nicht los. Es war ein instinktives Wissen, das sich wie eine kalte Hand in ihren Nacken krallte, ein Überbleibsel aus Jahren der Vorsicht.
Der Komplex tauchte vor ihr auf, eine Silhouette aus rostigem Metall und zerbrochenem Glas. Die riesigen, verlassenen Hallen wirkten wie schlafende Riesen, deren Stille das Echo von Schritten verschlang. Adelina zog ihre Handschuhe enger, bevor sie sich durch ein Loch im Maschendrahtzaun zwängte. Der süßlich-faulige Geruch von altem Öl und Metall stieg ihr in die Nase, begleitet von dem leisen Tropfen von Wasser, das irgendwo auf den Boden fiel. Sie hielt inne, lauschte, doch es war nur der leise Atem der verlassenen Anlage, der sie umgab.
Sie befestigte eine kleine Taschenlampe an ihrer Jacke, das Licht so gedämpft, dass es kaum mehr als einen schmalen Kegel vor ihr erleuchtete. Vorsichtig bewegte sie sich zwischen den Hallen hindurch, immer darauf bedacht, sich aus den möglichen Sichtlinien zu halten. Der Komplex war riesig, ein Labyrinth aus Betonwänden, Stahlträgern und verlassenen Maschinen. Perfekt für ein geheimes Treffen – oder einen Hinterhalt.
Ihr Atem wurde flacher, als sie näher an die Hauptlagerhalle herankam. Ein schwaches Licht brach durch die zerbrochenen Fenster, ein warmes Glühen, das nicht hierher gehörte. Sie kniete sich hinter ein altes Förderband, dessen kalte Metalloberfläche durch die Knie ihrer Jeans schnitt. Ihre Finger, die vor Kälte und Anspannung ein wenig zitterten, schoben eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Adelina spähte vorsichtig um die Ecke.
Drei Männer standen in der beleuchteten Halle. Ihre Silhouetten warfen lange Schatten auf die Betonwände, während ihre gedämpften Stimmen durch die halbleere Halle hallten. Adelina konnte die Worte nicht verstehen, doch die Haltung der Männer – einer mit verschränkten Armen, ein anderer mit einem nervösen Wippen auf den Fersen – ließ eindeutig Spannung erkennen. Einer von ihnen zog eine Zigarette aus seiner Tasche, das Glühen der Flamme erleuchtete kurz sein Gesicht. Adelina prägte sich die kantigen Gesichtszüge, die Glatze und die scharfen Augen ein. Sie würde später recherchieren müssen, ob er in den Syndikatsdaten auftauchte.
Ihre Hand griff in die Innentasche ihrer Jacke, wo sie eine kleine Kamera hervorzog. Mit präzisen Bewegungen richtete sie das Objektiv aus und machte mehrere Aufnahmen. Das Klicken des Auslösers war kaum hörbar, doch sie nahm es wahr, als wäre es eine Explosion. Sekunden vergingen, bevor sie sich wieder bewegte, ihre Muskeln unter ständiger Anspannung. Ihr Blick wanderte weiter über die Szene.
Ein vierter Mann trat aus der Dunkelheit der Halle, und Adelinas Atem stockte. Groß, mit einem maßgeschneiderten Mantel, dessen dunkler Stoff selbst im schwachen Licht glänzte. Die Art, wie er sich bewegte – ruhig, kontrolliert, als wüsste er, dass jede Bewegung beobachtet wurde – verriet eine natürliche Autorität. Sein Gesicht blieb im Schatten, doch seine Präsenz war unverkennbar. Damien Reich.
Adelina spürte ein Ziehen in ihrer Brust, das sie kaum kontrollieren konnte. Es war nicht nur die Gefahr seiner Präsenz. Es war die Erinnerung an Viktor – ein ungewolltes Bild seines Gesichts, blass und reglos, das durch ihre Gedanken flackerte. Ihr Bruder, der Mann, der ihr alles bedeutet hatte – und der nun tot war. Sie biss die Zähne zusammen, zwang sich, ruhig zu atmen, während die Bilder vor ihrem inneren Auge verschwanden. Damien Reich war hier. Vielleicht wusste er, wer Viktor verraten hatte. Vielleicht war er selbst der Grund dafür.
Sie schloss die Finger fester um die Kamera. Der Impuls, näher heranzugehen, war überwältigend. Sie wollte jedes Wort hören, jede Geste analysieren. Doch sie wusste, dass sie so etwas nicht riskieren konnte. Nicht, wenn Damien Reich in der Nähe war. Ein falscher Schritt, ein Geräusch – und sie würde enttarnt.
Die Männer sprachen weiter, ihre Stimmen hin und wieder von einem leisen, harten Lachen durchbrochen. Es war kein entspanntes Lachen, sondern das eines Raubtiers, das über die nächste Beute nachdachte. Adelina konnte spüren, dass es hier um mehr ging. Ein Geschäft, ein Plan – etwas, das die Machtstrukturen des Syndikats beeinflussen würde. Sie versuchte, einzelne Worte aus dem Gemurmel herauszulösen. "Verteiler... Triaden... Bezahlung..." Bruchstücke, die keinen klaren Sinn ergaben, die aber später eine Spur sein könnten.
Plötzlich änderte sich die Stimmung in der Gruppe. Einer der Männer – der Glatzköpfige – hob eine Hand und deutete auf die Dunkelheit in der Nähe der Halle. Adelinas Herz setzte für einen Moment aus. Hatte er etwas bemerkt? Ihre Finger schlossen sich um die Kante des Förderbandes, während sie sich tiefer in die Schatten drückte.
Der Mann zog eine Waffe aus seiner Jacke, eine schlanke Pistole, deren Metall im Licht glänzte. Die anderen Männer erstarrten, ihre Körper angespannt, die Hände bereit. Damien blieb ruhig, bewegte sich keinen Zentimeter. Seine Stimme durchbrach die Stille, tief und kontrolliert, die Worte so leise, dass Adelina sie nicht verstehen konnte. Der Glatzköpfige nickte schließlich und ließ die Waffe sinken. Die Männer entspannten sich, doch die Atmosphäre blieb geladen.
Adelina wagte es nicht, sich zu bewegen. Ihr Atem ging flach, und ihr Herzschlag hämmerte in ihren Ohren. Die Kälte der Nacht kroch durch ihre Kleidung, machte sie schwer und starr. Doch sie konnte nicht riskieren, entdeckt zu werden. Noch nicht. Sie musste wissen, was hier geschah, warum Damien Reich hier war.
Nach einer weiteren Minute, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, begannen die Männer, sich zu bewegen. Damien ging zur Seite, sein Mantel wirbelte leicht, als er sich abwandte. Er sprach etwas, und die anderen Männer nickten, bevor sie die Halle verließen. Adelina wartete, bis das Licht erlosch und die Stille zurückkehrte. Erst dann löste sie sich von ihrem Versteck.
Mit vorsichtigen Schritten näherte sie sich der Halle, die Kamera wieder fest in ihrer Hand. Ihr Blick wanderte über den Boden, suchte nach Hinweisen, nach etwas, das die Männer zurückgelassen haben könnten. Ihre Mühe wurde belohnt – in einer Ecke lag ein Bündel Papiere, teilweise durchnässt vom Regen, das wohl aus einer der Taschen gefallen war. Adelina griff danach, betrachtete die nassen Seiten. Ein Symbol auf einem Dokument ließ sie innehalten: ein stilisierter Drache, umgeben von Zeichen, die nach asiatischer Schrift aussahen. Triaden. Sie steckte die Blätter in ihre Jacke und verließ so leise wie möglich die Halle.
Als sie den Komplex verließ, spürte sie das Gewicht der Nacht auf ihren Schultern. Sie hatte Damien Reich gesehen, ihn beobachtet, doch es war nicht genug. Nicht, um Antworten zu bekommen. Nicht, um Gerechtigkeit für Viktor zu finden. Doch sie hatte eine Spur. Eine, die sie nicht ignorieren konnte.
Adelina zog ihre Kapuze wieder hoch und verschwand im Regen, die feuchten Blätter sicher verborgen. Sie war entschlossen, tiefer zu graben, weiterzugehen. Doch sie wusste, dass sie sich beeilen musste. Die Schatten der Stadt waren nicht nur ihr Schutz, sondern auch ihre größte Gefahr.