Kapitel 3 — Begegnung mit dem Alpha
Lea
Ein kühler Hauch zog durch das Dickicht und ließ die Blätter ein feines Lied raunen, als Lea die Lichtung betrat, die in ihrer Erinnerung noch von Wärme und Licht durchzogen war – vor langer Zeit, in einem anderen Leben. Der Korb in ihrer Hand war schwer von sorgfältig gesammelten Kräutern, doch die Last fühlte sich seltsam tröstlich an, wie eine Verbindung zu den Lehren ihrer Großmutter. Sich zu bücken und die kräftige Schafgarbe zu pflücken, ließ sie für einen Moment vergessen, warum sie hier war. Ihre Finger glitten über die weiche Blüte, und ein Hauch von Nostalgie mischte sich mit dem Duft des Waldes.
Doch die Ruhe hielt nur kurz. Der Wald fühlte sich lebendig an – zu lebendig. Die Schatten waren schwer, dicht, als würden sie jegliches Licht verschlucken, und das leise Flüstern des Windes in den Ästen trug eine unheimliche Warnung. Es war, als würde der Wald die Geheimnisse, die sie trug, in sich aufsaugen, misstrauisch, wachsam.
Ein Knacken. Das Geräusch eines schweren Schritts – unverkennbar menschlich.
Lea erstarrte. Ihre Muskeln spannten sich an, ihre Hände krampften sich um den Griff des Korbs. Sie hatte sich nie sicher gefühlt, seit sie zurückgekehrt war. Jeder Blick, jedes Wort im Dorf schien sie zu durchleuchten, zu wiegen, und jetzt war der Wald nicht länger ein Zufluchtsort, sondern eine Bühne, auf der sie beobachtet wurde.
„Du bist mutig, so allein hier draußen.“
Die Stimme schnitt durch die Stille, tief und beherrschend, mit einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ihr Atem stockte, bevor sie sich langsam umdrehte.
Kain Stahlwald trat aus den Schatten, seine Schritte lautlos wie die eines Raubtiers. Sein eisblauer Blick fixierte sie mit einer Intensität, die den Atem aus ihren Lungen zu pressen schien. Alles an ihm – seine Haltung, seine scharfen Gesichtszüge, die dunkle Kleidung, die sich nahezu mit der Umgebung vermischte – schien darauf ausgelegt zu sein, Dominanz auszustrahlen. Doch es war etwas in seinen Augen, eine versteckte, ungreifbare Emotion, die sie kurz fesselte, bevor sie sich zwang, den Blick abzuwehren.
„Ich war nicht allein,“ sagte Lea schließlich, bemüht, ihre Stimme ruhig zu halten. „Der Wald ist Begleitung genug.“
Ein kaum sichtbares Lächeln erschien auf seinen Lippen, mehr ein Zucken als ein Ausdruck echten Amüsements. „Der Wald vergibt nicht. Er vergisst nicht. Und er schützt keine Fremden.“
Das letzte Wort traf sie wie ein Schlag. Fremde. War das, was sie in den Augen aller hier war? Die Wälder, die sie einst als Heimat gekannt hatte, fühlten sich nun wie ein fremdes Land an. Sie stellte den Korb ab und verschränkte die Arme vor der Brust, als würde sie sich selbst Schutz bieten.
„Vielleicht,“ sagte sie, und ihre Stimme gewann an Schärfe, „ist es an der Zeit, dass der Wald sich ändert.“
Kain hob eine Augenbraue, sein Lächeln verwandelte sich in ein Schattenbild von Ironie. „Mutig, Lea Morgenstern. Aber Veränderungen kommen nicht ohne Kampf. Und Kämpfe haben ihren Preis.“
„Und du bist nicht hier, weil du zufällig Kräuter sammelst,“ entgegnete sie, den Versuch unternehmend, die Kontrolle über das Gespräch zurückzugewinnen.
Er trat einen Schritt näher, sein Blick schwer genug, um sie an Ort und Stelle zu halten. „Ich patrouilliere. Der Wald birgt Gefahren – und nicht alle kommen von außen. Es gibt Kräfte, die sich regen, Lea. Und deine Rückkehr?“ Er ließ den Satz unvollendet, aber seine Bedeutung hing unausgesprochen zwischen ihnen.
„Ich bin nur hier, um den Nachlass meiner Großmutter zu regeln,“ sagte sie, doch selbst in ihren Ohren klang die Antwort dünn und unzureichend.
Kain musterte sie, seine Augen bohrten sich in ihre, als wollte er hinter ihre Worte blicken. „Dein Blut, dein Name – sie machen dich zu einem Teil von uns. Ob du es willst oder nicht.“
Lea wollte lachen, doch es blieb in ihrer Kehle stecken. „Das ist es, was ihr immer sagt, nicht wahr? Blut. Namen. Tradition. Aber manchmal reicht das nicht.“
Er trat noch näher, bis der Abstand zwischen ihnen schwindend gering war. Die Hitze, die von ihm ausging, kontrastierte den kühlen Wind, der durch die Bäume fuhr. „Es reicht, wenn du begreifst, was es wirklich bedeutet. Du bist hier, weil du es sein musst. Weil etwas Größeres dich hergeführt hat.“
Seine Worte hallten in ihrem Geist wider, ein unerwünschtes Echo einer Wahrheit, die sie nicht akzeptieren wollte. Etwas an seiner Nähe, seiner Stimme, seiner unerschütterlichen Überzeugung machte sie nervös. Und doch war da ein Teil von ihr, der sich von ihm angezogen fühlte – nicht von seiner Dominanz, sondern von dem, was in ihm verborgen lag, einer Verletzlichkeit, die nur für den Bruchteil eines Moments durch seine Maske drang.
„Ich mache keine Politik, Kain,“ sagte sie und trat einen Schritt zurück, um Raum zwischen ihnen zu schaffen. „Was auch immer du von mir willst, ich bin nicht hier, um mich in eure Angelegenheiten einzumischen.“
„Du bist bereits mittendrin,“ sagte er, seine Stimme leiser, aber nicht weniger eindringlich. „Ob du es akzeptierst oder nicht – du bist ein Teil dieses Spiels, Lea. Und ich hoffe, du bist bereit, deinen Platz einzunehmen, wenn die Zeit kommt.“
Lea warf ihm einen scharfen Blick zu, ihre Lippen pressten sich zusammen, während ihre Gedanken wirbelten. Kains Worte hatten eine Schwere, die sie nicht abschütteln konnte, selbst als er sich abwandte und mit schleichender Eleganz zurück in den Wald verschwand.
Zurück blieb nur die Stille und das ferne Heulen eines Wolfes. Der Korb in ihren Händen fühlte sich schwerer an, als sie sich tief in den Schatten des Waldes wagte. Kains Worte hallten in ihrem Inneren wider, und der Wald, der ihr einst Trost gespendet hatte, schien sich jetzt gegen sie zu wenden, als wäre sie ein Eindringling in einer Welt, die sie längst verlassen hatte.
Etwas Größeres… Vielleicht hatte Kain recht. Vielleicht war ihre Rückkehr mehr als eine Entscheidung. Doch was das bedeutete, wusste sie noch nicht. Und das machte die Schatten um sie herum nur noch kälter.