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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Flucht ins Ungewisse


Lena Bergmann

Die salzige Luft der Nordseeküste vermischte sich mit dem schweren Duft des Regens, der an diesem Abend dichter und drückender als sonst war. Lena spürte die Anspannung in der Atmosphäre, noch bevor sie das kleine Café Strandblick betreten hatte. Die schwach leuchtenden Laternen entlang der Hauptstraße warfen flimmernde Schatten auf die glänzenden, nassen Pflastersteine, während das Geräusch der rauschenden Wellen in der Ferne wie ein unaufhörliches Echo in ihren Ohren hallte.

An der Tür zögerte sie. Ihr Blick glitt wachsam über die Umgebung – die wenigen geparkten Autos, die menschenleere Straße, die trügerische Ruhe. Das Misstrauen war längst ein ständiger Begleiter geworden, eine zweite Haut, die sie nicht ablegen konnte. Schließlich drückte sie die Tür auf. Das leise Klingeln der Glocke über ihr löste einen kurzen Schauer durch ihren Körper aus, den sie sofort unterdrückte.

Paul Reinhardt saß in der dunkelsten Ecke des Cafés, den Rücken zur Wand, die Kapuze seines dünnen Regenmantels halb über den Kopf gezogen. Seine Hände lagen unruhig auf dem Tisch, und seine rot unterlaufenen Augen huschten rastlos durch den Raum, als könnten sie jeden Moment etwas Gefährliches entdecken. Er sah aus wie ein Mann, der schon seit Tagen nicht mehr geschlafen hatte und von einer unsichtbaren Last erdrückt wurde.

„Lena,“ flüsterte er, als sie sich ihm näherte. Seine Stimme war rau und trug einen Hauch von Verzweiflung, die sie sofort spürte. Sie setzte sich langsam ihm gegenüber, ihre Schultern angespannt, die Hände eng um die Tischkante gelegt.

„Du siehst aus, als wärst du schon halb tot,“ sagte sie trocken, während ihr Blick jede seiner Bewegungen studierte. Seine feuchten Hände zitterten leicht. Paul schluckte schwer, schien jedoch ihre Worte zu ignorieren.

„Ich bin nicht tot,“ murmelte er, den Blick kurz abgewandt, als ob er sich der Realität nicht stellen wollte. Dann hob er den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. „Noch nicht. Aber wenn ich das nicht loswerde, dann wird es bald soweit sein.“

Er griff in die Innentasche seines Mantels, seine Bewegungen fahrig, und zog einen kleinen USB-Stick hervor. Lena beobachtete ihn mit kühler Distanz, während er das unscheinbare Stück Plastik und Metall entblößte – seine zitternden Finger krampften sich darum, als wäre es sein letzter Halt. Die Art, wie er es festhielt, ließ sie wissen, dass es mehr war als nur ein Datenspeicher. Es war ein Schlüssel – zu etwas, das größer war, als er allein tragen konnte.

„Ist das also, worüber du gesprochen hast?“ Ihre Stimme blieb leise und neutral. Sie ließ ihre Miene undurchdringlich, trat ihm jedoch mit einem wachsamen Blick entgegen.

Paul nickte, seine Lippen bebten leicht, als er den Stick vorsichtig auf den Tisch legte, als könnte er explodieren. „Es sind Beweise.“ Seine Stimme war nur ein Flüstern, kaum lauter als das stetige Klirren von Tassen im Hintergrund. „Beweise dafür, dass sie alles kontrollieren – Regierungen, Medien, die Wirtschaft. Alles. Und sie machen vor nichts halt. Auch nicht vor… Mord.“

„Wer sind ‚sie‘?“ Lena hielt ihren Ton ruhig, doch ihre Finger ballten sich unmerklich zu Fäusten. Sie hasste nebulöse Aussagen, hasste das Gefühl, im Dunkeln zu tappen.

Paul lehnte sich leicht vor, seine Stimme noch gedämpfter, als fürchtete er, selbst die Wände könnten ihn belauschen. „Labyrinth,“ hauchte er. „Du hast von ihnen gehört, oder? Sie sind nicht nur ein Mythos. Sie sind echt, Lena. Und sie sind überall.“

Die Erwähnung des Namens ließ etwas in Lena aufhorchen. Geschichten über Labyrinth hatte sie schon gehört, Gerüchte aus den dunklen Ecken des Netzes. Doch jetzt, mit diesem Stick vor ihr und Pauls panischem Blick – es fühlte sich anders an. Realer.

Bevor sie nachfragen konnte, veränderte sich die Atmosphäre im Raum merklich. Die Tür des Cafés öffnete sich. Zwei Männer in dunklen Jacken traten ein, ihre Bewegungen geschmeidig und kontrolliert, ihre Augen scannten den Raum mit der Präzision von Jägern. Lena bemerkte die Adern, die sich an Pauls Schläfe hervorhoben, als sein Atem flacher wurde. Der Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und seine Finger begannen, unwillkürlich an seinem Regenmantel zu zupfen.

„Sie sind es,“ flüsterte er, seine Stimme kaum hörbar. Er packte Lenas Hand mit einer Verzweiflung, die sie durch Mark und Bein drang. „Du musst gehen. Jetzt.“

Doch Lena blieb regungslos, ihre dunkelgrünen Augen waren auf die Männer gerichtet. Sie erkannte die trainierte Haltung, die unauffällige Art, wie sie ihre Umgebung analysierten. Es war klar: Das waren keine gewöhnlichen Zivilisten. Sie bewegten sich wie Schatten, Teile eines Systems, das sie zu gut kannte.

„Beruhig dich,“ zischte sie, ohne Paul anzusehen, während sie den USB-Stick unauffällig in ihrer Tasche verschwinden ließ. „Wenn du Panik machst, ziehen wir nur Aufmerksamkeit auf uns.“

Doch Paul war nicht mehr in der Lage, sich zu beruhigen. Er zog abrupt an ihrer Hand, sein Zittern übertrug sich auf sie. Der Stuhl unter ihr kratzte über den Boden, und die Männer drehten ihre Köpfe in ihre Richtung. Lena erkannte den Moment, als sie den Ausdruck in ihren Augen sah: Der Blick von Jägern, die ihre Beute gefunden hatten.

Noch ehe sie reagieren konnte, zog einer der Männer eine Pistole. Die Kellnerin schrie, und die Gäste stürzten panisch von ihren Tischen. Paul versuchte aufzustehen, doch Lena griff nach ihm und warf ihn zu Boden, als der erste Schuss durch die Luft peitschte. Das Geräusch hallte wie ein Donnerschlag durch das Café.

Als sie sich umblickte, stockte ihr der Atem. Paul lag auf dem Boden, regungslos, ein dunkler Fleck breitete sich auf seinem Hemd aus. Seine Augen waren weit geöffnet, seine Lippen formten noch ein lautloses Wort, bevor sein Körper erschlaffte.

„Verdammt,“ entfuhr es Lena. Doch sie hatte keine Zeit, zu trauern. Die Männer rückten näher, ihre Waffen auf sie gerichtet. Sie wusste, wenn sie zögerte, würde sie das nächste Ziel sein.

Ein schneller Scan der Umgebung offenbarte eine Tür am hinteren Ende des Raums, die in die Küche führen musste. Lenas Gedanken rasten, sie analysierte ihre Optionen in Sekundenbruchteilen. Sie packte ihre Tasche fester, ließ sich tiefer hinter den Tisch sinken und wartete auf den perfekten Moment. Dann sprintete sie los.

„Bleiben Sie stehen!“ rief einer der Männer, doch Lena ignorierte ihn. Sie stieß die Küchentür auf, rannte durch die enge, metallische Hitze der Küche und stürmte in die kühle Nacht hinaus. Der Regen prasselte gegen ihr Gesicht, der Wind biss in ihre Haut, doch sie zwang sich vorwärts.

Die Schritte hinter ihr wurden lauter. Die Männer verfolgten sie durch die engen Gassen des Küstendorfs, ihre Stiefel klatschten auf den nassen Boden. Lena schlüpfte durch einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern, duckte sich in die Schatten und hielt den Atem an.

Die Dunkelheit und der Regen waren ihre Verbündeten. Sie presste sich gegen die kalte, feuchte Wand, ihre Hand fest um ihre Tasche geschlossen. Die Schritte näherten sich, wurden langsamer. Sie hörte die Männer miteinander flüstern, dann entfernten sich die Geräusche allmählich.

Lena wartete, bis die Nacht wieder still wurde. Ihr Atem ging flach, und ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Als sie sich endlich aus ihrem Versteck wagte, war sie durchnässt und zitternd, aber entschlossen. Paul war tot – und sie allein hatte den Stick. Was auch immer darauf war, es war wertvoll genug, dass Labyrinth bereit war, dafür zu töten.

Mit einem letzten Blick über die Schulter verschwand Lena in die Nacht, ihre Gedanken ein Wirbelsturm aus Schuld, Wut und Entschlossenheit. Es gab kein Zurück mehr. Labyrinth wusste, wer sie war – und sie wusste, dass sie nicht aufgeben würde, bis sie die Wahrheit herausgefunden hatte.