Kapitel 3 — Verlorene Erinnerungen
Lea Rottwald
Das Summen ihres Handys riss Lea aus ihrem rastlosen Schlaf. Sie fuhr ruckartig hoch, ihr Atem ging schwer, und ein Film aus Schweiß klebte an ihrer Stirn. Die Erinnerungen an einen Traum – nein, eher ein Albtraum – verblassten bereits, doch das Gefühl von Dunkelheit und eine fremde, raue Stimme, die ihren Namen flüsterte, lingerte in ihrem Bewusstsein. Ihr Kopf schmerzte, während sie versuchte, die Bilder festzuhalten: Schatten, Wölfe, und Augen, die wie flüssiges Silber glühten.
Sie griff nach dem Handy auf ihrem Nachttisch. Max’ Name leuchtete auf dem Display, doch sie ignorierte den Anruf, legte das Gerät mit zitternden Fingern zurück und ließ sich in die Kissen sinken.
Der Wolfszahn lag neben dem Handy, ein stummer Wächter ihrer Träume. Sie betrachtete ihn, unwillkürlich angezogen, doch das Gewicht seiner Bedeutung zog an ihr wie eine unsichtbare Last. Als sie ihn aufhob, jagte ein plötzlicher Schauer durch ihren Körper. Ihre Hand zitterte, und sie spürte ein eigenartiges Ziehen in der Brust, ein intensives Gefühl, das so fremd wie vertraut war. Es war, als würde der Zahn etwas in ihr wachrufen, etwas, das sie nicht verstand, das sie aber nicht ignorieren konnte.
Eine Stunde später saß sie mit einer dampfenden Tasse Kaffee am Küchentisch und starrte auf die Kiste, die sie am Abend zuvor geöffnet hatte. Die Gegenstände darin schienen normal – alte Bilder, Briefe, kleine Andenken. Doch der Schlüssel mit dem Baum – und die Emotion, die er in ihr auslöste – ließen sie nicht los. Sie hatte versucht, sich einzureden, dass all dies Zufälle waren. Aber wie viele Zufälle konnten sich stapeln, bevor sie etwas anderes wurden?
Sie griff nach dem Foto, das ihren Vater und sie im Schwarzwald zeigte. Seine warme, liebevolle Umarmung war wie ein verblasster Schatten aus einer anderen Zeit. Der Schwarzwald. Der Gedanke, dorthin zurückzukehren, löste ein unangenehmes Kribbeln in ihrem Nacken aus. Ihre Eltern hatten den Umzug damals abrupt beschlossen, und sie war zu jung gewesen, um Fragen zu stellen. Jetzt, mit dem Zahn, dem Schlüssel und dem Schweigen ihrer Mutter, wurde ihr klar: Es war nicht nur eine Laune des Schicksals gewesen.
Ihre Finger strichen über den Wolfszahn, der noch immer auf dem Tisch lag. Irgendetwas in ihr rebellierte gegen die Unwissenheit. Sie spürte, wie ihre Kehle trocken wurde, die Luft schwer, fast so, als hätte der Raum selbst begonnen, sich zu verändern. Warum hatte der Zahn ihren Namen? Was bedeutete er? Warum schien er unausgesprochene Wahrheiten in sich zu tragen, die sie nicht greifen konnte?
Ein weiteres Mal wählte sie die Nummer ihrer Mutter. Der Anruf ging direkt zur Mailbox, doch diesmal hinterließ sie eine Nachricht, ihre Stimme angespannt und belegt. „Mama, ich brauche Antworten. Es geht nicht nur um den Zahn. Es geht um alles. Bitte ruf mich zurück. Ich … ich halte das nicht mehr aus.“
Als sie auflegte, fühlte sie sich leer. Frustration und Wut brodelten in ihr auf, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Ihre Mutter konnte sich nicht ewig verstecken.
Lea schloss die Augen und atmete tief durch. Sie musste mehr über ihre Familie erfahren, über die Geschichten, die ihr Vater ihr erzählt hatte. Vielleicht gab es in den alten Dokumenten in der Kiste etwas, das sie übersehen hatte.
Sie zog das zerknitterte Notizbuch hervor, das wie ein Relikt aus einer anderen Zeit wirkte. Seine Seiten waren vergilbt, der Einband brüchig, doch es war deutlich, dass es jemandem viel bedeutet hatte. Der erste Eintrag war in einer schwungvollen, altmodischen Handschrift geschrieben und datiert auf ein Jahr, das lange vor ihrer Geburt lag.
„Die Wälder flüstern, und die Schatten in ihren Tiefen tragen unser Blut. Was verborgen ist, darf nie ans Licht kommen.“
Lea runzelte die Stirn. Der Eintrag hatte keinen Namen, doch die Worte lösten etwas in ihr aus – ein Gefühl von Warnung und Vertrautheit zugleich. Während sie weiterblätterte, fand sie Zeichnungen von Wölfen, von Bäumen, deren Wurzeln ineinandergriffen, und seltsamen Symbolen, die sie nicht zuordnen konnte. Die Wölfe schienen lebendig, ihre Augen mit Tinte so gestochen scharf gezeichnet, dass sie beinahe leuchteten. Einige Seiten schienen herausgerissen worden zu sein, was den Eindruck verstärkte, dass jemand versucht hatte, Teile dieser Geschichte zu verbergen.
Ein bestimmtes Symbol tauchte immer wieder auf – ein Kreis, der von einem Baum durchbrochen wurde, dessen Äste in die Leere griffen wie Finger, die etwas zu fassen versuchten. Es war das gleiche Symbol wie auf dem Anhänger des Schlüssels.
Lea legte das Notizbuch zur Seite und starrte auf den Schlüssel in ihrer Hand. Ein leises Prickeln lief über ihre Finger, als sie ihn betrachtete, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, ein Flüstern zu hören – ein Klang, der nicht von dieser Welt zu stammen schien. Der Schlüssel musste zu etwas führen, das erklärte, warum ihre Familie dieses Geheimnis so sorgfältig gehütet hatte. Aber wozu? Und wieso hatte niemand je davon gesprochen?
Ein plötzlicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Es musste noch andere Hinweise geben. Vielleicht in den Papieren ihres Vaters? Seine alten Sachen waren nach seinem Tod in einer Truhe in ihrem Keller verstaut worden. Ohne zu zögern sprang sie auf, streifte sich eine Jacke über und machte sich auf den Weg in den dunklen, feuchten Raum unter ihrer Wohnung.
Der Keller war spärlich beleuchtet, und eine einsame Glühbirne flackerte, als sie den Lichtschalter betätigte. Die Luft war kühl und roch nach Staub und abgestandener Feuchtigkeit. Spinnweben zogen sich wie feine Netze über die Wände, und das entfernte Tropfen von Wasser verstärkte die bedrückende Stille. Sie kniete sich vor die alte Truhe, die mit einem verrosteten Scharnier verschlossen war. Als sie sie öffnete, knarrte das Holz wie ein gequältes Stöhnen.
Drinnen fand sie allerlei Erinnerungsstücke: ein paar Bücher, eine alte Uhr, Fotos, die sie bereits kannte. Aber als sie tiefer grub, entdeckte sie einen Briefumschlag, der in braunes, leicht zerfleddertes Papier gewickelt war. Ihre Hände zitterten, als sie ihn öffnete.
Der Brief war in der Handschrift ihres Vaters, und obwohl die Tinte an einigen Stellen verblasst war, konnte sie die Worte entziffern.
„Lea, wenn du dies liest, bedeutet das, dass ich nicht mehr da bin, um deine Fragen zu beantworten. Ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem die Wahrheit dich finden wird – oder du sie suchen wirst. Unsere Familie trägt ein Erbe, das sowohl ein Segen als auch ein Fluch ist. Der Schwarzwald birgt die Antworten, aber sei vorsichtig. Nicht alles, was du finden wirst, sollte ans Licht kommen. Vertraue deinem Instinkt, aber hinterfrage alles. Und egal, was passiert, erinnere dich daran, dass du nicht allein bist.“
Ihr Atem stockte, und eine Welle von Emotionen rollte über sie hinweg. Ihre Augen brannten, ihre Hände klammerten sich an das Papier, als wollte sie die Worte in sich hineinsaugen. Der Brief war keine Erklärung, sondern eine weitere Schicht des Mysteriums, das sich um sie legte. Doch eine Sache war klar – der Schwarzwald war der Schlüssel. Alles führte dorthin zurück.
Lea steckte den Brief ein, schloss die Truhe und machte sich wieder auf den Weg nach oben. Ihr Herz raste, während sie in ihrer Wohnung die wenigen Dinge packte, die sie brauchen würde. Kleidung, das Notizbuch, den Wolfszahn, den Schlüssel und den Brief ihres Vaters.
Als sie schließlich am Fenster stand, die Tasche über der Schulter, fiel ihr Blick auf den endlosen Himmel, der sich über die Stadt spannte. Der Schwarzwald wartete auf sie, sein Schatten warf sich bereits wie eine Vorahnung auf ihren Weg. Mit einem letzten tiefen Atemzug schloss sie die Tür hinter sich.