Kapitel 2 — Schatten der Vergangenheit
Lea Rottwald
Als Lea die Augen öffnete, war ihr erster Gedanke, dass etwas nicht stimmte. Der vertraute Geruch von altem Holz und Kaffee, der ihre kleine Wohnung normalerweise erfüllte, fehlte. Stattdessen lag ein metallischer Hauch in der Luft – der unverkennbare Geruch von Blut. Ein Schauer durchlief sie, während sie sich aufrichtete. Der Raum drehte sich für einen Moment, und sie musste sich an der Kante des Sofas festhalten, um nicht erneut zurückzusinken.
Ihr Blick wanderte zu sich selbst hinunter. Ihre Kleidung war zerrissen, und getrockneter Schlamm klebte an ihren Stiefeln und den Knien ihrer Jeans. Ihre Hände zitterten, als sie sie langsam zu ihrem Gesicht hob, den Hals abtastete, auf der Suche nach Verletzungen. Doch da war nichts. Kein Schnitt, keine Schramme. Aber ihr Körper fühlte sich an, als hätte er einen Sturm durchlebt, der tiefere Spuren hinterlassen hatte, als sie sehen konnte.
Dann fiel ihr Blick auf den Küchentisch – ein leises, schummriges Licht der Morgendämmerung ließ ein Objekt darauf aufblitzen. Es zog ihre Aufmerksamkeit an, wie ein Fangnetz, das ihre Gedanken einfing und nicht losließ. Sie stand unsicher auf, ihre Beine fühlten sich schwer an, fast fremd, und ging langsam auf das Objekt zu. Es war ein Zahn, blass und makellos, als wäre er gerade erst aus dem Maul eines Raubtiers gezogen worden. Doch es war nicht irgendein Zahn: Es war ein Wolfszahn. Und auf ihm – sie blinzelte, glaubte zuerst, ihre Augen würden ihr einen Streich spielen – war eine Gravur. Die Buchstaben waren klar erkennbar, eingeritzt wie eine Botschaft, die nur für ihre Augen bestimmt war: „Rottwald“.
„Was zur Hölle…?“ Ihre Stimme brach, heiser und rau, als hätte sie die ganze Nacht geschrien. Ihre Finger zögerten, bevor sie den Zahn berührten. Ein merkwürdig vertrautes Gefühl durchströmte sie, als ihre Haut das kalte, glatte Material streifte. Es war, als würde etwas in ihr auf diese Berührung reagieren – ein Puls, ein Echo, das von tief in ihrem Inneren kam. Ihr Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich.
Ihre Gedanken rasten. Wie war sie nach Hause gekommen? Das letzte, woran sie sich erinnern konnte, war der Tatort. Der Nebel, die groteske Szene, das Flüstern… Ihre Beine wurden weich, und sie ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. Da war etwas in ihrem Kopf, ein Schleier aus Schatten, der sich weigern wollte, die Wahrheit freizugeben. Eine Erinnerung, die sich in den Untiefen ihres Geistes versteckte – und sich gleichzeitig laut und unüberhörbar in ihre Gedanken bohrte.
Ein plötzliches Schrillen durchbrach die Stille, ließ sie zusammenzucken und ihre Gedanken zerstreuen. Ihr Handy vibrierte auf der Anrichte. Mit zitternden Händen griff sie danach, um den Anruf entgegenzunehmen. Max’ Name leuchtete auf dem Display.
„Lea? Wo bist du?“ Seine Stimme klang rau vor Besorgnis, fast panisch. „Ich habe die ganze Nacht versucht, dich zu erreichen!“
„Ich…“ Sie suchte nach Worten, aber nichts fühlte sich richtig an. „Ich bin zu Hause.“
„Zu Hause? Du bist einfach vom Tatort verschwunden, ohne ein Wort. Voigt war außer sich! Was ist passiert?“
Lea strich mit einer Hand durch ihr Haar, suchte verzweifelt nach einer Antwort, die nicht da war. „Ich weiß es nicht.“ Ihre Stimme brach, und sie biss sich auf die Lippe, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. „Ich… ich erinnere mich kaum. Es ist alles verschwommen.“
Max’ Schweigen am anderen Ende der Leitung war schwer und voller unausgesprochener Fragen. Schließlich sprach er. „Lea, das war keine normale Nacht. Du hast etwas gespürt, nicht wahr?“
„Max, ich bin keine Hellseherin.“ Die Worte kamen schärfer heraus, als sie beabsichtigt hatte, aber die Kälte in ihrer Brust ließ sich nicht unterdrücken. „Ich weiß nicht, was passiert ist, okay?“
Ein leises Seufzen erklang. „Okay. Aber ich mache mir Sorgen. Vielleicht solltest du–“
„Ich melde mich später.“ Sie legte auf, bevor er etwas entgegnen konnte. Ihre Brust hob und senkte sich in schnellen Zügen, während sie die Handflächen gegen ihre Schläfen drückte. Sie wusste, dass Max recht hatte. Etwas war geschehen, etwas, das nicht in die Welt passte, die sie zu kennen glaubte.
Ihr Blick wanderte zurück zum Wolfszahn. Der Gedanke, ihn wegzuwerfen, raste durch ihren Kopf, doch ihre Finger wollten ihn nicht loslassen. Stattdessen spürte sie, wie ihre Daumen über die Gravur strichen, und eine Welle von Bildern in ihr aufstieg: ein Wald, ein warmer Sommerabend, das leise Murmeln einer männlichen Stimme, die ihr Geschichten erzählte – Geschichten von Wölfen und alten Geistern, die den Schwarzwald durchstreiften. Doch die Erinnerung entglitt ihr, bevor sie klarer werden konnte.
Lea zwang sich unter die Dusche. Das heiße Wasser prickelte auf ihrer Haut, aber es brachte keine Ruhe. Bilder von Wölfen, von leuchtenden Augen in der Dunkelheit, geisterten weiter durch ihren Kopf. Und das Flüstern – das Flüstern war immer noch da, wie ein Echo in ihrem Hinterkopf, das nicht verstummen wollte.
Nachdem sie sich angezogen hatte, öffnete sie die alte Holzkiste unter ihrem Bett. Staubwolken stoben auf, und sie musste niesen. In der Kiste lagen vergilbte Fotos, ein zerknittertes Notizbuch und ein paar Briefe, die ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Ein Foto fiel ihr sofort ins Auge – sie als Kind, lachend auf den Schultern ihres Vaters, umgeben von einem Meer aus Bäumen. Der Schwarzwald. Plötzlich hörte sie wieder seine Stimme in ihrem Kopf, wie er von alten Legenden erzählte, von Wölfen, die über die Berge wachten. Geschichten, die sie damals für Märchen gehalten hatte.
Ihre Finger strichen weiter durch den Inhalt der Kiste, bis sie auf etwas Hartes stießen. Ein kleiner Schlüssel, befestigt an einem Anhänger mit eingraviertem Baum. Eine plötzliche Wärme breitete sich in ihrer Brust aus, als sie ihn ansah, als würde der Schlüssel ihr etwas zuflüstern, das sie nicht verstand. Was verbarg sich hinter diesem Symbol?
Entschlossen griff sie nach ihrem Handy und wählte die Nummer ihrer Mutter. Es dauerte mehrere Klingelzeichen, bevor die vertraute Stimme erklang.
„Lea?“ Ihre Mutter klang überrascht, fast nervös. „Es ist noch früh. Alles in Ordnung?“
„Mama, ich muss dich etwas fragen.“ Ihre Stimme bebte, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. „Es geht um unsere Familie. Gibt es… etwas, das ich wissen sollte? Etwas, das ihr mir nicht gesagt habt?“
Eine lange Stille folgte, und Lea hielt den Atem an. Schließlich antwortete ihre Mutter, ihre Stimme leise und schwer. „Lea, das ist kein guter Zeitpunkt.“
„Kein guter Zeitpunkt?“ Wut und Frustration mischten sich in ihre Worte. „Mama, ich habe einen Wolfszahn gefunden. Er trägt unseren Namen. Was bedeutet das?“
„Lea, bitte… lass es ruhen.“ Die Stimme ihrer Mutter klang brüchig, voller Schmerzen. „Manche Dinge… bringen nur Leid.“
„Was verschweigst du mir?“ Lea spürte, wie ihre Finger sich in den Tisch krallten, ein verzweifelter Versuch, die Kontrolle zu behalten. „Es geht um mich, nicht wahr?“
„Lea, ich flehe dich an.“ Ihre Mutter schluchzte leise. „Bitte.“
Und dann war die Verbindung tot.
Für einen Moment starrte Lea das Telefon in ihrer Hand an, unfähig zu begreifen, was gerade passiert war. Eine Welle von Wut und Verzweiflung überrollte sie, und sie musste sich an der Tischkante abstützen, um nicht den Halt zu verlieren. Ihre Mutter wusste etwas. Und sie hatte sich entschieden, zu schweigen.
Lea griff nach ihrer Jacke und dem Wolfszahn. Sie konnte nicht länger hierbleiben. Die Wände der Wohnung schienen sich um sie zusammenzuziehen. Antworten – sie brauchte Antworten. Und es gab nur einen Ort, an dem sie beginnen konnte: den Schwarzwald.