App herunterladen

Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Gefährliche Neugier


Helena

Ein zögernder Sonnenstrahl brach durch die grauen Wolken, die über der Stadt hingen, und spiegelte sich auf der gläsernen Fassade des Cafés wider, in dem Helena saß. Das summende Treiben der Menschen draußen drang gedämpft durch die Fensterscheiben, doch es schien, als würde die Welt um sie herum in einem anderen Rhythmus leben. Vor ihr lag der Stapel der gestohlenen Dokumente, sorgfältig in eine schlichte Ledermappe verstaut. Ihre Finger ruhten auf der Kante der Mappe, während ihr Blick auf die dampfende Tasse Kaffee vor ihr gerichtet war. Sie hatte keinen Schluck genommen, obwohl die Wärme der Tasse ihre kühlen Finger wohltuend umhüllte.

Ihr Herz fühlte sich schwer an, wie von einer unsichtbaren Kraft nach unten gezogen. Seit sie gestern Abend die Dokumente durchgelesen hatte, war die Welt, die sie kannte, wie unter ihren Füßen zerbröckelt. Eine Flut von Gedanken drängte sich in ihren Kopf – Fragmente von Erinnerungen an ihren Vater, an seine strenge Ordnung und die Momente, in denen er gedankenverloren wirkte. Er war für sie immer ein Fels in der Brandung gewesen, doch nun schien er eine ganz andere Persönlichkeit zu verbergen, eine, die sie nicht kannte.

Ihre Hände zitterten leicht, als sie die Mappe öffnete und die ersten Seiten herauszog. Die Worte und Zahlen darauf schienen vor ihren Augen zu tanzen – Namen, Adressen, Summen. Und immer wieder tauchte er auf: Leon Esposito. Der Name kam ihr vor wie ein dunkles Echo, das durch die Leere ihrer Gedanken hallte. Ihre Brust zog sich zusammen, als ihr eine unausgesprochene Warnung ihres Vaters aus ihrer Kindheit in den Sinn kam: „Manche Namen sollte man nicht laut aussprechen, Helena. Sie tragen mehr Gewicht, als du denkst.“

Ihre Augen blieben auf einer Adresse hängen, die in einer kühlen, sachlichen Handschrift notiert war. Die Straße lag in einem Viertel, das sie nur aus Geschichten kannte – ein Ort, von dem ihre Freunde sagten, man solle ihn meiden, besonders nachts. Sie biss sich auf die Unterlippe und schob die Dokumente zurück in die Mappe. Ein Teil von ihr wollte in diesem Moment einfach aufstehen, das Café verlassen und nie wieder an den gestrigen Tag denken. Aber da war auch eine andere Stimme, leise, fordernd, die sie dazu drängte, Antworten zu finden. Und diese Stimme war lauter – sie gehörte der Helena, die wusste, dass sie sich nicht auf das Verdrängen verlassen konnte. Nicht dieses Mal.

„Wenn ich das nicht tue, wer dann?“ murmelte sie leise vor sich hin. Der Gedanke an die Bedeutungslosigkeit ihrer Fragen, wenn sie sie nicht verfolgt, brachte sie in Bewegung. Sie stand abrupt auf, warf einen zerknitterten Geldschein auf den Tisch und verließ das Café. Der kalte Wind der Stadt wehte ihr ins Gesicht, als sie draußen stand und auf ihr Handy blickte, um die Adresse in ihre Karten-App einzugeben. Der Bildschirm zeigte eine Route durch die Straßen und Gassen der Stadt an, und sie konnte das flaue Gefühl in ihrem Magen nicht ignorieren. Doch sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Wenn sie nicht jetzt handelte, würde die Ungewissheit sie zerfressen.

Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster, während sie dem Weg folgte, den die App vorgab. Die Gebäude um sie herum wurden dunkler, die Fassaden schäbiger, je näher sie ihrem Ziel kam. Vorbei an einem Friseursalon mit verblichenem Schild, einem Kiosk, der aussah, als würde er gleich einstürzen, und einer Reihe von Müllcontainern, drang sie tiefer in das unbekannte Viertel vor. Der Geruch von feuchtem Beton und abgestandenem Wasser hing in der Luft. Das Gefühl, beobachtet zu werden, legte sich wie ein Schatten auf ihre Schultern, und sie zog ihre Jacke enger um sich, als könnte sie sich damit vor der drückenden Atmosphäre schützen.

Schließlich hielt sie vor einem heruntergekommenen Bürogebäude, das zwischen zwei anderen, ebenso verfallenen Gebäuden eingeklemmt war. Die Fenster waren teilweise zersprungen, und die Eingangstür hing schräg in ihren Angeln. Es war der Ort, den die Adresse angegeben hatte. Helena stand regungslos da, den Blick auf die Tür gerichtet, während ihr Atem eine weiße Wolke in der kalten Luft bildete. Ihr Inneres schrie danach, umzudrehen und nach Hause zu gehen, doch ihre Füße bewegten sich wie von selbst vorwärts.

Sie hatte kaum die Eingangstür aufgestoßen, als sie eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Schritte hallten durch den Flur, schwer und langsam, und ein beklemmendes Gefühl von Beobachtung kroch ihr über die Haut. Helena drehte sich langsam um, und ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie zwei Männer sah, die den Eingang blockierten. Sie wirkten wie aus einer anderen Welt – grobschlächtige Gesichter, dunkle Mäntel, die sie wie Schatten umhüllten, und Augen, die nichts Gutes verhießen.

„Suchst du jemanden?“ fragte der größere der beiden mit einem spöttischen Unterton. Seine Stimme war rau, als hätte er sein Leben lang Zigaretten geraucht, und seine Lippen verzogen sich zu einem entstellten Grinsen. Der andere Mann blieb stumm, doch sein Blick wanderte über Helena wie die kalte Klinge eines Messers. Er rieb sich die Hände, als bereite er sich darauf vor, zuzuschlagen.

„Ich... Ich habe mich verlaufen,“ stammelte sie und spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. Ihre Finger schlossen sich um die Ledermappe in ihrer Tasche, als sei sie ein Schutzschild.

„Verlaufen?“ Der Mann lachte leise, ein Geräusch, das ihr durch Mark und Bein ging. „Hier verirrt sich niemand zufällig, Fräulein. Besonders nicht mit solchen Papieren in der Tasche.“ Sein Blick wanderte zu ihrer Handtasche, als hätte er bereits den Inhalt gesehen.

Helena wich einen Schritt zurück, doch mit jedem Schritt, den sie machte, kamen die Männer näher. Die kühle Luft des Gebäudes fühlte sich plötzlich erstickend an, und ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Sie wollte etwas sagen, etwas, das sie aus dieser Situation retten konnte, doch ihre Gedanken waren wie eingefroren.

„Wir haben ein paar Fragen,“ sagte der zweite Mann endlich, seine Stimme leise, aber voller Gefahr. „Fragen über deinen Vater.“

Helena erstarrte. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, wusste nicht einmal, ob es überhaupt etwas gab, das sie sagen konnte. Ihre Gedanken rasten, doch bevor sie eine Antwort finden konnte, durchbrachen Schritte und ein leises Räuspern die bedrückende Stille.

„Lasst sie in Ruhe.“

Die Worte waren ruhig, fast gleichgültig, doch sie trugen einen schneidenden Unterton, der die Aufmerksamkeit der Männer sofort abzog. Helena drehte sich um und sah einen Mann, der aus dem Schatten des Flurs trat. Er war mittelgroß, mit athletischer Statur, und die kühle Sicherheit in seinem Gang ließ die beiden Männer innehalten. Sein Gesicht war hart und von einer feinen Narbe über der rechten Augenbraue gezeichnet. Seine grauen Augen funkelten wie Stahl, scharf und unnachgiebig.

„Das hier ist nicht euer Geschäft,“ fügte er hinzu, seine Stimme knapp und tödlich ruhig. Er ließ seinen Blick über die Männer gleiten, als wollte er sie ohne ein weiteres Wort durchbohren. Die beiden Männer hielten inne, ihre Körper steif, als warteten sie auf einen Befehl.

„Das ist Rafa Moretti,“ murmelte einer der Männer, und Helena konnte die Anspannung in seiner Stimme hören. Die beiden Männer warfen einander einen Blick zu, bevor sie ohne ein weiteres Wort den Flur entlang verschwanden.

Helena atmete tief durch, ohne zu merken, dass sie den Atem angehalten hatte. Der Mann – Rafa – wandte sich ihr zu, seine grauen Augen musterten sie mit einer Intensität, die sie nervös machte. „Du hast keine Ahnung, wo du dich hier hineinbegibst,“ sagte er ruhig.

„Ich suche Antworten,“ erwiderte sie, ihre Stimme zitterte nur leicht.

Ein kaum merkbares Lächeln zog über sein Gesicht, doch es war alles andere als freundlich. „Antworten sind in dieser Stadt gefährlicher als Fragen.“ Er trat einen Schritt näher, und Helena spürte, wie sich eine seltsame Mischung aus Furcht und Neugier in ihr regte. „Wenn du klug bist, gehst du jetzt nach Hause und tust, als hättest du niemals diesen Ort betreten.“

Helena spürte, wie die Worte einen Teil von ihr zum Schweigen brachten, doch ein anderer Teil wehrte sich dagegen, aufzugeben. „Warum sollte ich? Warum sollte ich blind bleiben?“ Ihre Worte überraschten sie selbst, doch sie klangen entschlossener, als sie sich fühlte.

Rafa sah sie für einen Moment schweigend an, bevor er leise seufzte. „Weil dein Leben davon abhängen könnte.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand im Schatten des Flurs, ohne sich noch einmal umzusehen.

Helena blieb allein zurück, ihr Herz immer noch rasend, während die Dunkelheit des Gebäudes sie zu verschlingen drohte. Doch anstatt sich umzudrehen und zu gehen, wie Rafa es geraten hatte, spürte sie eine neue, unerschütterliche Entschlossenheit in sich aufsteigen. Sie würde nicht aufgeben, nicht jetzt. Die Schatten um sie herum waren beängstigend, aber die Dunkelheit, die in ihrem Herzen wuchs, war noch stärker.

Helena straffte die Schultern, drehte sich um und verließ das Gebäude. Der Name Rafa Moretti brannte sich in ihre Gedanken, und sie wusste, dass dies erst der Anfang war.