Kapitel 3 — Rafas Warnung
Rafa
Die Kälte der Nacht zog wie ein schneidender Atem durch die engen Gassen, ließ die Neonlichter an den verfallenen Wänden blass und unbarmherzig wirken. Regen hatte die Luft schwer gemacht, ein Gemisch aus Metall, Moder und abgestandenem Wasser, das an den Sinnen nagte. Rafa zog den Kragen seiner dunklen Lederjacke höher, während er sich lautlos durch den Schatten bewegte. Seine Schritte waren unhörbar, sein Blick scharf und wachsam, wie ein Raubtier, das seine Beute fixierte. Dieser Stadtteil war wie ein offenes Grab: leer, kalt, voller Gefahren. Die Illusionen der Oberwelt schienen hier nie existiert zu haben. Es gab keine Träume, keine Hoffnung – nur Überleben, pur und erbarmungslos.
Er hasste diesen Ort. Nicht, weil er gefährlich war – diese Gefahr war für ihn berechenbar –, sondern weil er ihm allzu vertraut war. Der Geruch des Scheiterns, die erzwungene Härte, die Schreie, die sich hinter den geschlossenen Fenstern im Stillen zu Tode würgten. Das alles war ein Spiegel seiner Vergangenheit.
Aber heute war er nicht hier, um zu reflektieren. Er war hier, weil Leon nicht zögerte, Fehler auszunutzen. Und Helena Wagner – die naive Blondine, die sich entschlossen hatte, in einer Welt zu wühlen, die sie nicht verstand – hatte sich einen besonders gravierenden geleistet. Leons Informanten hatten berichtet, dass sie nach Antworten suchte, mitten in der Nacht, in einem Viertel, in dem eine falsche Frage tödlich sein konnte. Rafa hatte diese Nachricht mit einem Anflug von Ärger aufgenommen. Sie hatte keinen Schimmer, welchen Preis sie für ihre Neugier zahlen könnte. Und wenn Leon von ihrer Alleinaktion erfuhr, würde er keine Gnade zeigen. Rafa hatte sich geschworen, die Sache zu regeln – schnell, diskret und ohne zusätzliche Komplikationen.
Aus den Schatten heraus beobachtete er sie jetzt. Sie stand vor einem heruntergekommenen Gebäude, dessen schiefe Eingangstür wie ein schiefer Zahn aus der Fassade ragte. Zwei Männer blockierten ihren Weg, die Gesichter halb im Schatten, halb in das flackernde Licht einer Straßenlaterne getaucht. Ihre breiten Staturen und die lässige, aber bedrohliche Haltung verrieten genug über ihre Absichten. Helena hielt sich bemerkenswert aufrecht, aber ihre Schultern waren steif, und ihre Finger umklammerten ihre Handtasche, als wäre sie ihre Rettungsleine. Ihre Augen huschten nervös zwischen den beiden Männern hin und her, während sie mit angespannter Stimme sprach.
„Ich habe mich verlaufen,“ sagte sie, ihre Worte klar, aber zu angestrengt, um glaubwürdig zu sein. Rafa konnte die Unsicherheit in ihrer Stimme hören und wusste, dass die Männer es ebenfalls bemerkten. Einer von ihnen, der größere, trat einen Schritt vor. Sein Lächeln war breit und falsch, seine Augen scharf wie die Klinge eines Messers.
„Verlaufen?“ wiederholte er höhnisch. „In einer Gegend wie dieser? Eine schlechte Ausrede, Fräulein.“ Er neigte seinen Kopf leicht zur Seite, ein so beiläufiger, aber kalkulierter Akt der Einschüchterung, dass Rafa unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte. „Vielleicht hast du etwas dabei, das uns interessiert.“
Der andere Mann lachte leise und trat näher, ließ seine Finger spielerisch am Griff eines Messers entlang gleiten, das an seiner Hüfte hing. Rafa schnaubte leise, seine Geduld am Rande des Zerreißens. Sie waren Dummköpfe, die nicht einmal wussten, welche Sprengladung sie in den Händen hielten. Umso besser, dachte er. Das bedeutete, dass er noch rechtzeitig eingreifen konnte, bevor die Situation eskalierte.
Er trat aus den Schatten. Der Klang seiner Stiefel auf dem nassen Asphalt brach die Stille wie das Schleifen einer Klinge, und alle Köpfe wandten sich in seine Richtung. Er bewegte sich langsam, mit einer tödlichen Gelassenheit, die den Raum enger zu machen schien. Seine grauen Augen trafen die beiden Männer mit einer Kälte, die wie eine Waffe wirkte, und er spürte, wie sie in ihre Haltungen erstarrten. Der größere von ihnen murmelte fast unhörbar einen Namen – Rafas Namen – und die damit verbundene Bedeutung ließ ihre Gesichter zuckend verhärten.
„Lasst sie in Ruhe,“ sagte Rafa, seine Stimme ruhig, aber geschärft wie ein Messer, das durch Fleisch schneidet. Die Worte waren knapp, doch ihr Gewicht ließ keinen Raum für Widerspruch. Die Männer zögerten, Blicke voller unausgesprochener Drohungen tauschten sich zwischen ihnen aus. Rafa blieb reglos, nur sein stechender Blick wanderte kurz zu dem Messergriff, dann zurück zu ihren Gesichtern. Es war eine stille Warnung, die sie verstanden.
Schließlich traten sie widerwillig zurück, ihre Bewegungen langsam und angespannt. Sie warfen Rafa noch einen letzten zornigen Blick zu, bevor sie im Schatten verschwanden, aber er wusste, dass sie nicht zurückkommen würden. Ihr Talent zur Einschätzung von Gefahren war begrenzt, doch ihre Furcht vor ihm war echt.
Die Stille kehrte zurück, durchbrochen nur vom leisen Tropfen der Regenrinne und Helenas hörbarem Atem. Rafa wandte sich langsam zu ihr um. Ihre grünen Augen ruhten auf ihm, weit aufgerissen, eine Mischung aus Verwirrung, Angst und etwas anderem, das er nicht benennen konnte. Er widerstand dem Impuls, lange genug hinzusehen, um es herauszufinden.
„Du hast keine Ahnung, wo du dich hier hineinbegibst,“ sagte er schließlich, seine Stimme leise, aber durchdringend. Ihre Haltung war noch immer angespannt, doch sie wich seinem Blick nicht aus. Es überraschte ihn. Die meisten hätten sich abgewendet, hätten versucht, klein zu wirken. Nicht sie.
„Ich suche nur Antworten,“ entgegnete sie. Ihre Stimme zitterte leicht, aber da war ein Kern aus Stahl, der ihn innehalten ließ. Sie war nicht nur ein verängstigtes Mädchen, das sich verlaufen hatte. Sie war etwas anderes.
„Antworten sind gefährlich.“ Rafa trat einen Schritt näher, seine Präsenz füllte den Raum zwischen ihnen, obwohl er sie nicht direkt berührte. „Manchmal ist es besser, nicht zu fragen.“
Ihre Augen glitzerten vor Trotz. „Vielleicht. Aber ich kann nicht einfach wegsehen. Nicht mehr.“
Etwas an ihrem Blick – dieser entschlossene Funke trotz der Angst – erinnerte ihn an etwas, das er längst verloren hatte. Er fühlte, wie sich eine Spannung in seiner Brust breit machte, die er nicht willkommen heißen wollte. „Du weißt nicht, worum es hier geht. Wenn du wirklich Antworten willst, solltest du wissen, dass sie nicht ohne Preis kommen.“
Sie hob das Kinn, eine Geste, die sowohl Mut als auch Trotz verriet. „Ich bin bereit, den Preis zu zahlen.“
Rafa schloss für einen Moment die Augen, bevor er sie wieder ansah. Sie verstand nicht, was sie da sagte, konnte die Konsequenzen nicht begreifen. „Dein Vater...“ Er hielt inne, biss die Worte fast heraus, während er überlegte, wie viel er preisgeben konnte. „Er hat sich mit den falschen Leuten eingelassen. Leon Esposito ist einer von ihnen. Und das bedeutet, dass du jetzt ebenfalls auf ihrer Liste stehst.“
Helena schluckte hörbar, und ihre Augen weiteten sich leicht. Sie wusste genug, um den Namen zu erkennen. Rafa trat einen Schritt zurück, sein Blick ruhte schwer auf ihr. „Wenn du klug bist, gehst du jetzt nach Hause. Du kannst nicht gewinnen, nicht in dieser Welt.“
Für einen Moment glaubte er, sie würde auf ihn hören. Doch dann hob sie das Kinn erneut, und in ihrem Ausdruck lag ein stählerner Wille, der ihn unwillkürlich an sich selbst erinnerte. Er erkannte, dass sie nicht umkehren würde.
„Dein Leben könnte davon abhängen,“ sagte er leise und drehte sich um. Er verschwand zurück in die Schatten, ohne sich umzusehen, obwohl er das brennende Gefühl ihres Blicks auf seinem Rücken spürte. Es war besser so, redete er sich ein. Sie war nicht seine Verantwortung.
Doch tief in seinem Innern wusste er, dass dies nicht das letzte Mal war, dass er sie sehen würde.