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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Ein unerwünschter Beobachter


Anna Berger

Eine langsam ziehende Wolke verschluckte das Mondlicht, und die Dunkelheit in den schmalen Gassen von München wurde fast greifbar. Die unregelmäßigen Kacheln des Kopfsteinpflasters knirschten unter Annas schweren Stiefeln, während sie sich hastig vorwärtsbewegte. Ihr Atem ging stoßweise, und ihre rechte Hand ruhte schützend auf der Tasche mit den Beweisen, die sie um keinen Preis verlieren durfte. Das Handy in ihrer Jackentasche vibrierte erneut, doch sie ignorierte es. Lena. Es musste Lena sein, die sie erreichen wollte. Vielleicht, um sie zu warnen. Vielleicht, um zu appellieren, dass sie vorsichtiger sein sollte. Doch Vorsicht war ein Luxus, den Anna sich nicht leisten konnte. Nicht jetzt.

Die Stimmen der Nacht – das ferne Murmeln eines vorbeifahrenden Autos, das Kreischen von Bremsen, das Klirren einer zerbrochenen Flasche – schienen lauter als sonst. Oder vielleicht war es nur ihre eigene Paranoia, die mit jedem Schritt wuchs. Sie spürte es wieder, dieses unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ein Blick über die Schulter hatte nichts ergeben, doch die Präsenz war da, schwer wie Blei und kaum wahrnehmbar wie ein Schatten. Es war nicht das erste Mal, dass sie verfolgt wurde, aber die letzten Wochen hatten sie gelehrt, niemandem zu trauen. Nicht einmal ihrer Redaktion, wo die Misstrauen erweckenden Blicke und das plötzliche Schweigen in den Fluren mehr Fragen als Antworten hinterlassen hatten.

Anna bog um eine Ecke, vorbei an einer geschlossenen Bäckerei und einem leeren Zeitungskiosk. Die Tasche an ihrer Schulter drückte schwerer als zuvor; nicht nur wegen ihres Inhalts. Sie wusste, welch zerstörerisches Potenzial die Dateien hatten: detaillierte Aufzeichnungen über illegale Geldströme, verschlüsselte Transaktionen, die auf hochrangige Politiker und ihre mafiösen Verbindungen hinwiesen. Sie konnte Karrieren und Leben zerstören – und ihres gleich mit.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie abrupt stehen blieb. Sie drückte den Rücken an die kühle, raue Wand einer Hausfassade und lauschte. Die Stille war erdrückend. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Dann hörte sie es – leise Schritte, gleichmäßig, methodisch. Sie wagte einen Blick um die Ecke und sah die Silhouette eines Mannes im dunklen Mantel. Seine Bewegungen hatten etwas Unnachgiebiges, wie ein Jäger, der genau wusste, dass er seine Beute in die Enge treiben würde.

Panik schoss durch ihren Körper, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Ihre Finger glitten in die Tasche, griffen nach ihrem Handy. Es war eine instinktive Bewegung, die Sicherheit versprach – bis ihr plötzlich die Erkenntnis wie ein Messer in den Magen fuhr: Was, wenn sie schon längst überwacht wurde? Was, wenn „sie“ alles hörten? Die Männer, die ihr auf den Fersen waren, hatten sich sicherlich längst Zugang zu ihrer Welt verschafft. Anna erinnerte sich an die seltsame Verzögerung, als Lena vor zwei Tagen eine Datei freigeben wollte. Die abweisenden Gesichtsausdrücke der anderen Kollegen. Der plötzliche Wechsel in ihrer Redaktion, seit sie an diesem Fall arbeitete. Es war genau dieser Gedanke, der sie davon abhielt, Lena jetzt zu kontaktieren. Jemand in ihrem Umfeld hatte sie verraten.

Die Schritte kamen näher. Anna steckte das Handy zurück in die Tasche und zwang sich, ruhig zu atmen. Ihre Gedanken rasten, suchten nach einem Fluchtweg. Ihre Augen fanden eine schmale, unbeleuchtete Gasse, die zwischen zwei Gebäude führte. Ohne zu zögern tauchte sie hinein, wobei sie alle Geräusche so gut wie möglich zu dämpfen versuchte. Der Gestank von Müll und abgestandener Luft schnitt ihr in die Nase, und die Schatten der hohen Wände drückten sich wie eiserne Fäuste um sie.

Am Ende der Gasse entdeckte sie ein schmales Tor, das zu einem Innenhof führte. Sie griff danach und zog daran, doch die alten, verrosteten Scharniere gaben ein lautes Quietschen von sich. Anna biss die Zähne zusammen, schob das Tor gerade weit genug auf, um hindurchzuschlüpfen, und schloss es hinter sich. Der Hof war still, fast gespenstisch. Ein verwitterter Brunnen in der Mitte und überwucherte Blumenbeete waren kaum im schwachen Licht der Straßenlaterne zu erkennen. Auf der gegenüberliegenden Seite sah sie eine schmale Tür in der Mauer. Ihr Fluchtweg.

Doch als sie loslief, hörte sie das Geräusch von knirschenden Schritten hinter sich. Sie wirbelte herum und sah ihn: die dunkle Silhouette des Mannes, der nun im Eingang der Gasse stand. Das schwache Glühen seiner Zigarette erhellte für einen Moment sein Gesicht. Kalte Augen fixierten sie, und seine kantigen Gesichtszüge verrieten keine Eile, keine Unsicherheit – nur Gewissheit. Er war hier, um sie zu holen.

Anna griff nach einer verrosteten Eisenstange, die neben dem Brunnen lag, und hielt sie wie eine Waffe vor sich. „Bleiben Sie zurück!“ Ihre Stimme zitterte, doch sie zwang sich, entschlossen zu wirken. Der Mann bewegte sich nicht. Er ließ die Zigarette fallen, trat sie mit einem langsamen, bedrohlichen Tritt aus und sprach zum ersten Mal.

„Anna Berger.“ Seine Stimme war tief, fast ein Knurren. „Sie sollten wirklich lernen, wann es Zeit ist, aufzugeben.“

„Was wollen Sie von mir?“ fragte sie, ihre Stimme schärfer als sie sich fühlte. Die Eisenstange zitterte leicht in ihrer Hand.

„Nur eine Unterhaltung.“ Der Mann hob die Hände, doch sein Gesichtsausdruck blieb kalt. „Geben Sie mir, was Sie haben, und wir können das beenden, bevor es hässlich wird.“

„Und was dann?“ Annas Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. „Varga hat also jetzt Schoßhunde, die ihm die Drecksarbeit abnehmen?“

Sein Lächeln verschwand, und seine Stimme wurde noch kälter. „Sie spielen ein gefährliches Spiel, Fräulein Berger. Das hier ist größer, als Sie verstehen.“

Anna spürte, wie die Angst sie zu überwältigen drohte, doch sie hielt dagegen. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und sprintete zur Tür in der Mauer. Sie hörte seinen Ruf hinter sich, doch sie achtete nicht darauf. Ihre Finger fanden den Griff, zerrten an der Tür, bis sie sich öffnete. Sie stolperte hinaus auf eine neue Straße, die so leer war wie die letzte.

Ein Taxi kam um die Ecke und hielt an einer roten Ampel. Anna rannte darauf zu und warf die hintere Tür auf. „Fahren Sie! Bitte fahren Sie sofort!“ Der ältere Fahrer runzelte die Stirn, doch als er sie in die Augen sah, startete er wortlos. Während das Taxi sich in Bewegung setzte, wagte Anna einen Blick zurück. Der Mann stand immer noch im Innenhof, ein Schatten, der die Dunkelheit zu beherrschen schien.

Ihr Atem beruhigte sich allmählich, doch ihre Gedanken rasten. Sie griff nach ihrem Handy, öffnete eine verschlüsselte App und begann fieberhaft, die Dateien an einen versteckten Speicherort hochzuladen. „Wenn sie mein Telefon abhören…“, murmelte sie, „dann ändere ich die Regeln.“

Die Wahrheit schlug ihr ins Gesicht: Es gab einen Maulwurf. Irgendjemand hatte sie direkt in die Fänge der Mafia geführt. Sie konnte niemandem trauen – nicht einmal Lena. Annas Kiefer verkrampfte sich, als sie das Handy ausschaltete und ihre Tasche fester an sich drückte. Sie wusste nicht, wohin sie fahren würde, aber eines war sicher: Sie würde nicht aufgeben. Selbst wenn sie alles verlieren würde. Die Wahrheit musste ans Licht. Und sie würde kämpfen. Bis zum bitteren Ende.