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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Flucht aus dem Labyrinth


Anna Berger

Der warme Geruch von altem Leder und abgestandener Luft füllte das Innere des Taxis, während Anna sich nervös auf der Rückbank hin und her schob. Ihre Finger zitterten, als sie die Tasche auf ihrem Schoß festhielt. Der Fahrer, ein Mann mit graumeliertem Haar und tiefliegenden Augen, warf ihr immer wieder einen prüfenden Blick über den Rückspiegel zu. Der Verdacht in seinen Augen stach wie Nadeln. Anna bemühte sich, ihren Atem zu beruhigen, doch das Adrenalin hielt ihren Puls auf einem ungesunden Niveau. Sie wusste, dass sie keine Sekunde verschwenden durfte.

„Wohin?“ Die raue Stimme des Fahrers klang, als sei sie von Jahrzehnten des Rauchens geschliffen.

Anna zögerte. Wohin? Die einfache Frage fühlte sich an wie eine Falle. Sie konnte nicht zurück in ihre Wohnung – das war ausgeschlossen. Und Lena? Ein stechender Schmerz zog durch ihre Brust. Lena schien ein Verbündeter zu sein, doch Annas Kopf war ein chaotisches Labyrinth aus Zweifeln und Misstrauen. Sie konnte niemandem trauen, nicht einmal sich selbst.

„Fahren Sie einfach in Richtung Süden“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme.

Der Fahrer runzelte die Stirn, seine Lippen kräuselten sich zu einem missbilligenden Ausdruck. „Süden? Wird das noch genauer?“

Anna spürte, wie ihr die Geduld entglitt. Doch dann hielt sie inne. Ein Ausbruch würde sie nur noch verdächtiger machen. Sie presste die Lippen zusammen, zwang ihre Stimme zu einer ruhigen, fast beiläufigen Tonlage. „Ich muss einen Freund außerhalb der Stadt treffen. Fahren Sie einfach los, ich gebe Ihnen später Bescheid.“

Er schüttelte den Kopf, murmelte etwas Unverständliches, doch schließlich gab er nach und lenkte das Taxi in eine breitere Straße. Anna griff in ihre Tasche, zog ihr Handy heraus und überprüfte die verschlüsselte App. Der Upload der Dateien war bei 75 %. Noch nicht fertig. Eine einzige Datei voller Beweise, die das System erschüttern könnte – und sie musste jeden Moment damit rechnen, dass ihre Verfolger ihr zuvorkamen.

Ein Zittern durchfuhr ihre Finger, als ein vertrauter Albtraum zurück in ihre Gedanken kroch. Sie hatte die Gesichter der Männer gesehen, die Varga auf sie angesetzt hatte. Sie wusste, wozu sie fähig waren. Ihr Atem beschleunigte sich, und sie zwang sich, den Blick aus dem Fenster zu richten. Doch plötzlich spürte sie, wie ihr Körper sich versteifte.

Durch die Scheibe des Taxis sah sie ihn – einen schwarzen SUV, der zwei Autos hinter ihnen fuhr. Die getönten Fenster verbargen die Insassen, doch Anna musste nicht hineinsehen, um zu wissen, dass sie gefunden worden war.

„Fahren Sie schneller“, drängte sie den Fahrer, ihre Stimme eine Oktave höher als beabsichtigt.

„Das hier ist keine Autobahn, Fräulein“, murrte er.

„Ich zahle Ihnen das Dreifache“, stieß Anna hervor, das Zittern in ihrer Stimme kaum verbergend.

Das schien seine Haltung zu ändern. Der Fahrer presste die schmalen Lippen zusammen, und mit einem Knirschen gab der Wagen Gas. Anna wagte einen weiteren Blick aus dem Rückfenster. Der SUV blieb auf Abstand, doch sie wusste, dass dies nicht lange so bleiben würde.

An einer belebten Kreuzung, wo das Taxi im langsam fließenden Verkehr ins Stocken geriet, traf sie eine Entscheidung. „Halten Sie hier an!“

„Was?“ Der Fahrer funkelte sie über den Rückspiegel an. „Aber Sie sagten doch—“

„Halten Sie an!“ Anna warf ihm einen verzweifelten Blick zu, der keine Widerrede duldete.

Der Fahrer zog die Schultern hoch, schimpfte leise vor sich hin und hielt schließlich am Straßenrand. Anna drückte ihm einige Geldscheine in die Hand, sprang aus dem Wagen und mischte sich hastig unter die wenigen Fußgänger.

Jeder Schritt fühlte sich wie ein Risiko an. Ihr Herz raste, als sie geduckt zwischen den Menschen hindurchschlüpfte, die Kopflampen der Autos streiften ihr Gesicht wie grelles Scheinwerferlicht. Der SUV war nicht zu sehen, doch sie spürte den Blick ihrer Verfolger wie einen Dolch im Rücken.

Sie bog in eine Seitengasse ein, vorbei an einem halb beleuchteten Schaufenster, in dem altmodische Kameras ausgestellt waren. Die Reflexionen der Stadtlichter tanzten auf den Scheiben und verzerrten ihr eigenes Spiegelbild. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie nicht los.

Anna beschleunigte ihren Schritt, nur um fast mit einem Paar zusammenzustoßen, das Arm in Arm die Gasse entlang schlenderte.

„Entschuldigung“, murmelte sie und drückte sich an ihnen vorbei, ohne die Köpfe zu heben. Ihr Ziel war eine U-Bahn-Station, die sie in der Nähe vermutete. Die Hektik und Enge der unterirdischen Tunnel boten ihr wenigstens eine Chance, ihre Verfolger abzuschütteln.

Der Eingang zur Station war ein unscheinbarer Abgang, dessen Neonbeleuchtung in unregelmäßigen Abständen flackerte. Anna sprang die Stufen hinunter, kaufte hastig ein Ticket und spähte dabei über die Schulter. Nichts. Doch das bedeutete nichts. Ihre Verfolger waren geduldig. Sie warteten, bis ihre Beute sicher glaubte, entkommen zu sein.

Der Zug rollte in die Station ein, und Anna sprang in den nächstbesten Waggon. Die Türen schlossen sich hinter ihr, ein leises Summen durchzog die Luft, als der Zug sich in Bewegung setzte. Sie drehte sich zu den Fenstern, ihr Blick suchte fieberhaft die Menschenmenge auf dem Bahnsteig ab. Und dann sah sie ihn. Der Mann im dunklen Mantel stand regungslos da, sein kalter Blick direkt auf sie gerichtet.

Anna drehte sich abrupt um, presste ihre Hand gegen den Sitz vor sich und kämpfte gegen die Übelkeit, die in ihr hochstieg. Der Zug durchratterte die Tunnel, das monotone Rauschen der Räder schlug wie ein Trommelschlag in ihrem Kopf. Sie musste ihren nächsten Schritt planen.

Bei der nächsten Station sprang sie aus der Tür, hetzte den Bahnsteig entlang und stieg in den wartenden Zug auf der gegenüberliegenden Seite ein. Sie wechselte die Züge mehrfach, umrundete das Labyrinth der Stadt, bis sie schließlich an einer Station am Stadtrand landete, wo sie der Zug ausspuckte wie ein Fremdkörper.

Die Straßen hier waren schmal und verlassen, die Gebäude schienen unter dem bleichen Schein der Straßenlaternen zu zerfallen. Anna zog die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht und spürte, wie die Kälte der Nacht ihre Haut stach.

In einem kleinen Kiosk kaufte sie eine Flasche Wasser und ein Straßenkartenbuch, während der alte Mann hinter der Theke sie mit einem misstrauischen Blick fixierte. Zurück auf der Straße suchte sie eine dunkle Ecke, setzte sich auf eine niedrige Treppenstufe und blätterte hektisch durch die Karte.

Die bayerischen Alpen. Ihre Gedanken flogen zu den Gipfeln und Tälern, die sie einst während eines Urlaubs mit ihrem Vater durchwandert hatte. Die Erinnerung an die klare, kalte Luft und das Gefühl der Sicherheit schnürte ihr die Kehle zu. Es war die einzige Zuflucht, die sie sich vorstellen konnte.

Sie trank einen Schluck Wasser, presste die Lippen zusammen und starrte auf die Karte vor sich. Die Erschöpfung nagte an ihr, doch sie durfte jetzt nicht nachgeben. Sie stand auf, warf einen letzten Blick auf die leeren Straßen und setzte sich in Bewegung – weg von den bekannten Wegen, hinein in die dunkle, unbarmherzige Wildnis, die sie erst noch kennenlernen musste.

Die Nacht war dicht und erbarmungslos, doch Anna wusste, dass sie den Kampf nicht aufgeben durfte. Nicht für einen Moment. Sie würde weitergehen. Für die Wahrheit. Für die Gerechtigkeit. Für sich selbst.