Kapitel 2 — Erben der Dunkelheit
Vincent Falk
Die schweren Türen des Falkenhofs schlossen sich hinter Vincent und dämpften das entfernte Murmeln der wartenden Menge. Der Klang hallte durch die hohen Decken der Eingangshalle, ein Echo, das die Leere und Kälte des Raumes nur noch verstärkte. Dunkle Holzböden, poliert bis zum Glänzen, reflektierten das gedämpfte Licht der antiken Kronleuchter. Der Geruch von Leder, Zigarrenrauch und altem Holz schien in die Wände eingraviert, ein ständiger Begleiter derer, die die Geschichte dieses Hauses trugen.
Vincent hielt inne, seine grauen Augen glitten kühl über die vertraute Umgebung. Der Falkenhof hatte immer wie eine Festung gewirkt – ein Ort der Macht, des Schutzes, aber auch der Bürde. Doch an diesem Tag fühlte er sich eher wie ein Käfig an. Jedes Detail erinnerte ihn an die unerbittliche Verantwortung, die jetzt auf seinen Schultern lag. Leons Schatten schwebte über allem – in den schweren Vorhängen, die das Licht blockierten, in den Porträts an den Wänden, in den leisen Stimmen der Clanmitglieder, die sich irgendwo in den Nebenräumen versammelt hatten.
Sein Blick wanderte zu einem der Porträts: Leon in seinem Element, ein charismatisches Lächeln, das fast verhöhnend wirkte. Vincent schloss die Augen für einen Moment. „Traue keinem Schatten“, hatte Leon gesagt. Das Echo dieser Worte schien den Raum zu füllen, drohend und zugleich herausfordernd.
Er spürte Bewegung und wandte sich um. Sophie Keller stand dort, die ihn bereits erwartete. Sie trug einen dunkelgrauen Hosenanzug, der ihre scharfen Gesichtszüge unterstrich. Ihr Blick war klar, ernst, aber nicht ohne eine Spur von Mitgefühl. Sophie war keine Frau, die sich Illusionen hingab, und genau das machte sie unverzichtbar.
„Die Familie wartet im Salon“, sagte sie leise, ihre Stimme ein perfektes Gleichgewicht aus Professionalität und Zuwendung. „Markus Wagner hat bereits andeuten lassen, dass er Zweifel an deinem... Führungsstil hat.“
Vincent verzog keine Miene, obwohl eine leise Welle von Wut durch ihn ging. Markus Wagner – der Unterboss, der sich stets durch seine Ambitionen und seinen Mangel an Respekt auszeichnete. Er war ein Mann, der immer bereit war, eine Schwäche auszunutzen.
„Natürlich hat er das“, sagte Vincent ruhig und zog seinen Mantel aus, bevor er ihn Sophie übergab. „Markus war schon immer ein Mann, der seine Chancen erkennt, wenn er glaubt, keine Konsequenzen fürchten zu müssen.“
Sophie neigte leicht den Kopf, ein Zeichen, dass sie diese Bemerkung verstand, aber keine Zeit mit unnötigem Kommentar verschwenden wollte. „Die Familie erwartet, dass du Stärke zeigst – und das solltest du gezielt einsetzen.“
Vincent schnaubte leise, kaum hörbar. „Sophie, wir beide wissen, dass ich mir keinen Fehler erlauben kann.“
Sie hielt seinem Blick stand, ohne zu blinzeln. „Und wir beide wissen, dass du zu klug bist, einen zu machen.“
Vincent nickte, wandte sich ab und begann, den langen Flur entlangzugehen, der zum Salon führte. Seine Schritte hallten auf dem Holz, ein rhythmisches Klopfen, das sich mit seinen Gedanken vermischte. Es war ein beklemmendes Gefühl, in die Fußstapfen seines Bruders zu treten. Leon hatte diese Räume mit einer Präsenz gefüllt, die überwältigend war. Er war der König des Falkenhofs gewesen, unangefochten in seiner Autorität. Vincent war der Stratege gewesen, der Mann im Hintergrund, der die Fäden gezogen hatte. Doch jetzt war alles anders.
Die Doppeltüren des Salons standen bereits offen, und ein gedämpftes, erwartungsvolles Murmeln wehte ihm entgegen. Der Raum war voller Menschen – Mitglieder des Clans, enge Verbündete, einige, die auf den ersten Blick loyal wirkten, und andere, deren Augen zu viel sprachen.
Die Stimmung war geladen. Die Trauer um Leon lag schwer in der Luft, doch darunter brodelte etwas anderes: Misstrauen, Zweifel, Machtkämpfe, die nur darauf warteten, auszubrechen. Und inmitten dieses Chaos stand Markus Wagner, selbstsicher wie immer, mit einem Glas Rotwein in der Hand. Sein Blick fixierte Vincent, während seine Finger spielerisch den Rand des Glases umkreisten. Das süffisante Lächeln auf seinen Lippen war eine Einladung zur Konfrontation.
Vincent betrat den Raum mit der Gelassenheit eines Mannes, der alles unter Kontrolle hatte – auch wenn er innerlich wusste, dass diese Kontrolle noch brüchig war. Er ließ seinen Blick über die Versammlung schweifen, nahm jede Geste, jeden Blick wahr, während er zum Kopf der langen Tafel ging. Dort lag ein leerer Stuhl – Leons Stuhl.
Er hielt inne, sein Blick ruhte einen Moment lang auf der leeren Sitzfläche. In diesem Moment spürte er das Gewicht der Erwartung auf sich lasten, die Blicke, die ihn förmlich durchbohrten. Sein Kiefer spannte sich an. Er widerstand dem Impuls, den Stuhl zu ignorieren, und legte stattdessen demonstrativ seine Hand auf die Lehne.
Die Versammlung verstummte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.
„Leon Falk ist tot.“ Seine Stimme war ruhig, aber fest, und hallte in der Stille wider. „Doch der Falk-Clan lebt – und wird weiterleben.“
Einige nickten, andere blieben starr, ihre Mienen verschlossen. Markus jedoch hob die Augenbrauen, als hätte er nur darauf gewartet, eine Bemerkung zu machen.
„Schöne Worte, Vincent“, sagte er mit einem süffisanten Lächeln. „Aber Worte allein werden uns nicht retten. Die Straßen Berlins sind gefährlich, besonders jetzt, wo unsere Gegner unsere Schwäche wittern.“
Vincent hielt seinem Blick stand, ließ den Raum für einen Moment in angespannter Stille verharren. Er neigte leicht den Kopf, als würde er Markus‘ Worte abwägen, bevor er mit ruhiger Stimme antwortete: „Interessant, Markus, dass du glaubst, jetzt sprechen zu müssen.“
Ein leises Lachen ging durch die Menge, doch Markus ließ sich nicht einschüchtern. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass jemand die Dinge ausspricht, die du nicht zu sagen scheinst.“
Vincent trat einen Schritt nach vorne, sein Blick wurde kälter, durchdringender. „Du hast recht, Markus. Die Straßen Berlins sind gefährlich. Und genau deshalb brauchen wir keine Spaltung innerhalb des Clans. Wer glaubt, dass er das Erbe meines Bruders besser verteidigen kann als ich, sollte jetzt sprechen. Aber“, er ließ den Blick durch den Raum wandern, „er sollte auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen.“
Die Stille war schwer und bedrohlich. Niemand wagte es, etwas zu sagen. Selbst Markus hielt inne, sein Lächeln war verschwunden.
„Gut“, sagte Vincent schließlich, seine Stimme ruhiger, aber nicht weniger schneidend. „Dann lasst uns anfangen, die Dinge zu reparieren, die zerbrochen sind. Denn eins ist klar: Der Verräter, der meinen Bruder auf dem Gewissen hat, ist noch unter uns. Und ich werde ihn finden.“
Ein Murmeln ging durch die Menge, dieses Mal voller Unruhe. Vincent nutzte die Gelegenheit, um sich wieder aufzurichten, die Spannung zu brechen.
„Sophie wird eine Liste der Verantwortlichkeiten verteilen. Jeder von euch wird beweisen, dass er loyal ist – durch Taten, nicht Worte.“ Sein Blick ruhte kurz auf Markus, bevor er den Rest der Versammlung musterte. „Und wer nicht loyal ist, wird die Konsequenzen tragen.“
Mit diesen Worten ließ er den Raum hinter sich, das Gewicht seiner Entscheidung und das Feuer seines Schwurs in seiner Brust. Bevor er die Tür hinter sich schloss, trat Sophie an ihn heran.
„Vincent“, sagte sie leise. „Ich habe etwas herausgefunden, das du dir ansehen solltest. Es könnte wichtig sein.“
Er nickte knapp. Die Jagd hatte begonnen.