Kapitel 2 — Der einsame Schatten
Erik
Erik Stein saß auf einer verwitterten Steinbank am Rande des Alten Nordfriedhofs. Die Luft war schneidend kalt, und sein Atem stieg in kleinen Wolken vor ihm auf. Schneeflocken hatten sich auf seinem dunklen Mantel und den Schultern seiner Lederjacke gesammelt, doch er machte keine Anstalten, sie abzuschütteln. Vor ihm lagen die Gräber in stiller Reihe, Grabsteine, die von der Zeit gezeichnet waren, ihre Inschriften von Moos überwuchert oder ganz verblasst. Die kahlen Äste der Bäume warfen gespenstische Schatten auf den Boden, und die wenigen, die sich an diesem Ort verloren, schienen Geister zu sein: leise, kaum mehr als flüchtige Schemen, die rasch wieder verschwanden.
Erik zog an seiner Zigarette und ließ den Rauch langsam entweichen. Er genoss die Einsamkeit hier, besonders an Wintertagen wie diesem. Es war ein Ort, der nicht viel versprach, aber auch nichts verlangte. Ein Ort, an dem er sich verlieren konnte, ohne dass jemand es bemerkte. Ein Ort, der so still war, dass er die Stimmen in seinem Kopf besser hören konnte – und manchmal auch ertragen.
Sein Blick wanderte zu einem der Mausoleen, das halb von Schnee bedeckt war. Unter dessen Fundament lag die Gruft, die die Mafia gerne als Treffpunkt nutzte. Erik wusste, dass dort unten Entscheidungen getroffen und Schicksale besiegelt wurden, während er hier oben saß und so tat, als ginge ihn das alles nichts an. Doch die Wahrheit war, dass er diesen Ort nicht zufällig gewählt hatte. Er war ein Schattenmann, ein Beobachter, immer zwischen den Welten. Er konnte nicht leugnen, dass er sich von dieser Dunkelheit angezogen fühlte, so sehr er sie auch verachtete.
Die Erinnerungen krochen aus den hintersten Winkeln seines Verstands hervor – ungebetene Gäste, die er nicht verscheuchen konnte. Eine dunkle Nacht in München, Jahre zuvor. Erik hatte Beweise gegen ein Netzwerk korruptionsdurchsetzter Kollegen gesammelt, die der Mafia halfen, das System zu manipulieren. Es hätte sein größter Sieg werden sollen. Stattdessen war es sein Untergang. Verraten und in die Flucht gezwungen, hatte er alles verloren: seine Karriere, seinen Ruf, die wenigen Menschen, die ihm etwas bedeuteten. Hier, auf diesem Friedhof, konnte er die Trümmer seines alten Lebens fast körperlich spüren. Und doch kehrte er immer wieder zurück. Vielleicht, weil dieser Ort ihn daran erinnerte, warum er nicht aufgeben durfte. Oder weil er keinen anderen Platz hatte, an den er gehen konnte.
Ein leises Knirschen von Schritten im Schnee hinter ihm ließ ihn aufhorchen. Er drehte sich langsam um, sein Körper sofort angespannt, auch wenn seine Gesichtszüge unbewegt blieben. Seine blassen blauen Augen scannten den Friedhof, suchten im Dämmerlicht nach der Quelle des Geräuschs. Ein Mann in einem abgetragenen Wollmantel trat näher, die Hände tief in den Taschen vergraben. Es war Fuchs, ein alter Informant aus Eriks Zeit bei der Polizei. Sein Gesicht war schmaler geworden, seine Augen tiefer im Schädel versunken, aber das halb spöttische Lächeln, das seine Lippen zierte, hatte sich nicht verändert.
„Stein“, sagte Fuchs, ohne sich die Mühe zu machen, eine Begrüßung zu heucheln. „Ich hätte nicht gedacht, dass du diesen Ort immer noch unsicher machst.“
Erik warf die Zigarette zu Boden und trat sie mit der Ferse aus. „Und ich hätte gedacht, du wärst längst unter irgendeiner Brücke erfroren.“
Fuchs lachte leise, aber es war ein trockenes, leeres Geräusch. „Manchmal überlebt das Unkraut eben. Aber ich bin nicht hier, um über alte Zeiten zu plaudern. Jemand sucht nach dir.“
Erik blieb regungslos, doch innerlich zog sich etwas in ihm zusammen. Er hasste es, wenn sein Name in den Mund genommen wurde, vor allem in dieser Stadt. „Wer?“
„Das weiß ich nicht. Aber sie sind hartnäckig. Haben ein paar Subjekte in der Unterwelt ausgequetscht, um deinen Aufenthaltsort herauszufinden. Scheint wichtig zu sein.“
Erik musterte Fuchs, suchte in dessen Miene nach einem Hinweis darauf, ob das eine Falle sein könnte. Doch Fuchs war schwer zu durchschauen, und Erik wusste, dass er für ein paar Euro oder Informationen zu fast allem bereit war. „Und warum erzählst du mir das?“
Fuchs zuckte mit den Schultern. „Nennen wir es… alte Verbundenheit. Oder vielleicht, weil ich weiß, dass jemand wie du früher oder später die Dinge ins Wanken bringt. Und wenn das passiert, will ich sicher sein, dass ich auf der richtigen Seite stehe.“
„Die richtige Seite?“ Erik schnaubte. „In dieser Stadt gibt’s keine richtige Seite.“
„Mag sein“, sagte Fuchs und kramte ein zerknittertes Stück Papier aus seiner Manteltasche. Er reichte es Erik. „Hier. Ein Ort und eine Zeit. Sie wollen dich dort treffen.“
Erik nahm das Papier, ohne darauf zu schauen, und steckte es in die Tasche seiner Jacke. „Und was, wenn ich nicht hingehe?“
„Dann, mein Freund, wirst du den Rest deines Lebens mit der Frage verbringen, wer dich gesucht hat und warum. Und ich glaube nicht, dass du der Typ bist, der mit so was leben kann.“
Fuchs wandte sich ab und ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Erik blieb sitzen, starrte auf die vergilbten Grabsteine vor sich und spürte das Gewicht seiner Vergangenheit in jeder Faser seines Körpers. Nach all den Jahren, nach allem, was er verloren hatte, gab es immer noch Menschen, die seinen Namen in der Unterwelt flüsterten. Es war ein Fluch, den er nicht abschütteln konnte, egal wie weit er zu entkommen versuchte.
Er zog das Papier aus der Tasche und entfaltete es. In unsauberer Schrift stand dort: „Café Lucia. 14:00 Uhr. Sei allein.“ Erik starrte auf die Worte, als könnten sie ihm mehr verraten, doch sie blieben stumm. Ein Teil von ihm wollte es ignorieren, einfach nicht hingehen. Doch der andere Teil – der Teil von ihm, der nie die Finger von Gefahren lassen konnte – wusste, dass er dort sein würde. Er wollte wissen, wer ihn suchte. Und warum.
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Das Café Lucia lag in einer kleinen Seitenstraße, unscheinbar und altmodisch, mit einem abblätternden grünen Schild über der Tür. Erik betrat den Raum und wurde von der Wärme und dem Duft von frisch gebrühtem Kaffee empfangen. Die Atmosphäre war ruhig, fast heimelig, aber Erik traute der Idylle nicht. Er wusste, dass die Mauern hier Geschichten kannten, die niemals erzählt wurden.
Die Besitzerin des Cafés, eine ältere Dame mit grauem Haar und warmen Augen, nickte ihm zu, als er hereinkam. Erik nickte zurück und suchte sich einen Tisch in der Ecke, mit dem Rücken zur Wand und einem guten Blick auf die Tür. Es waren nur wenige Gäste da, und keiner schien ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Doch Erik war wachsam. In dieser Stadt bedeutete Ruhe oft nichts Gutes.
Er bestellte einen Espresso und wartete. Die Minuten zogen sich, doch Erik verspürte keinen Drang, auf die Uhr zu schauen. Geduld war eine seiner Stärken, und in Situationen wie dieser war sie unverzichtbar. Schließlich öffnete sich die Tür, und eine Frau trat ein.
Sie war jung, Ende 20 vielleicht, und ihr dunkles Haar war zu einem einfachen Zopf gebunden. Sie wirkte nervös, doch ihre Schritte waren entschlossen, und ihre braunen Augen suchten zielstrebig den Raum ab, bis sie auf ihn trafen. Erik lehnte sich zurück und taxierte sie mit kühler Präzision. Ihre schlichte, praktische Kleidung verriet, dass sie auf Funktionalität bedacht war, nicht auf Eindruck. Aber es gab etwas an ihrer Haltung, etwas Unausgesprochenes, das ihn warnte. Diese Frau war kein Zufall.
Sie kam auf ihn zu und blieb vor seinem Tisch stehen. „Erik Stein?“
Er fixierte sie mit einem Blick, der so scharf war wie ein Messer. „Wer fragt?“
„Ich bin Sofia Moretti“, sagte sie, ihre Stimme ruhig, doch ihre Hände verrieten sie – sie zitterten, ganz leicht. „Und ich brauche Ihre Hilfe.“
Der Name ließ Erik innerlich erstarren. Moretti. Natürlich. Es war immer die Mafia, die ihn einholte, egal, wie tief er zu sinken versuchte. „Und warum, glaubst du, sollte ich dir helfen?“ Seine Stimme war ruhig, fast gelangweilt, doch sein Blick blieb stählern.
Sofia hielt seinem Blick stand, auch wenn er die Unsicherheit in ihren Augen sehen konnte. „Weil ich glaube, dass Sie die Wahrheit genauso wenig mögen wie ich, Herr Stein.“
Erik lehnte sich nach vorne, seine mundstückartig blassen Augen fixierten sie. „Die Wahrheit“, sagte er leise. „Die Wahrheit ist, dass die Menschen, die deinen Namen tragen, alles zerstören, was sie berühren. Warum sollte ich für dich eine Ausnahme machen?“
Sofia atmete tief durch, bevor sie antwortete. „Weil es nicht nur um mich geht. Es geht um eine Familie, die zerfällt, und um die Möglichkeit, vielleicht endlich etwas richtig zu machen. Für Sie genauso wie für mich.“
Erik schwieg, doch die Worte hallten in ihm nach. Eine Familie, die zerfällt. Das war eine Wahrheit, die er nur zu gut kannte. Er sagte nichts, doch er wusste, dass dieses Gespräch alles verändern könnte.