Kapitel 2 — Erwachen
Lena Falk
Lena stieg aus dem Auto und zog ihren Mantel enger um sich, während der Wind durch den verwilderten Garten des alten Herrenhauses pfiff. Die knorrigen Äste der überwucherten Bäume schienen wie drohende Finger, die ihr den Weg versperren wollten. Ihre Schritte auf dem Kies klangen dumpf und unwillkommen, als hätte der Ort sie längst vergessen. Die Mauern, einst wie eine schützende Burg, wirkten jetzt wie ein Gefängnis, das sie in ihrer eigenen Vergangenheit gefangen hielt. Lena hielt inne und sah zum Haupteingang des Herrenhauses hoch. Ihre Hand zitterte leicht, bevor sie die schwere Holztür aufdrückte.
Ein Schwall feuchter, muffiger Luft empfing sie, und die Dunkelheit des Hauses schlug über ihr zusammen wie eine Welle, die sie zu verschlingen drohte. Sie blieb stehen, wartete, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Die vertrauten Umrisse der Möbel und Wände materialisierten sich langsam, wie Geister aus einer anderen Zeit. Sie brauchte kein Licht, um sich zurechtzufinden. Sie hatte jede Ecke dieses Hauses gekannt. Die Wendeltreppe dort drüben, der breite Flur, den sie einst lachend entlanggerannt war – alles war ihr vertraut und doch fremd geworden. Eine Kälte kroch ihre Wirbelsäule hinauf, als sie den Flur zur Bibliothek entlangging.
Die Bibliothek war der einzige Raum, der noch immer so aussah, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Die schweren Holzregale ragten bis zur Decke, erfüllt von alten, vergilbten Büchern, deren staubiger Duft die Luft erfüllte. Sie bewegte sich langsam, ihre Finger strichen zögernd über die Bücherreihen. Sie hielt inne, als sie ein Märchenbuch erblickte, das ihre Mutter ihr früher vorgelesen hatte. Ihre Brust zog sich zusammen, und für einen Moment wollte sie das Buch einfach nur an sich drücken, um die verlorene Wärme ihrer Mutter zu spüren. Doch stattdessen griff sie nach dem Buch, spürte dessen Gewicht in ihrer Hand, und entdeckte den kleinen Haken dahinter. Sie hielt inne. Ihre Finger zitterten, während sie zögerte.
„Nicht zurückweichen“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sich aus einer längst vergangenen Erinnerung drängte. Lena atmete tief ein und zog am Haken. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die verborgene Tür.
Der versteckte Raum war karg und kühl. Ein massiver Eichentisch stand im Zentrum, umgeben von Wänden, die von der Zeit unberührt schienen. Auf dem Tisch lagen mehrere Aktenordner und vergilbte Dokumente, scheinbar wahllos gestapelt. Der erste Schritt in den Raum fühlte sich an, als würde sie in eine andere Welt eintreten, eine Welt, die sie schon immer geahnt, aber nie betreten hatte. Sie streckte zögernd die Hand aus und öffnete den obersten Ordner.
Die nächsten Minuten verschwammen. Schwarz-weiße Fotos, handschriftliche Vermerke, Tabellen mit Zahlen – je mehr sie las, desto schwerer fühlte sich die Luft an. Schmugglernetzwerke, Bestechungsgelder, illegale Drogengeschäfte – die Dokumente zeichneten das Bild eines riesigen, skrupellosen Imperiums. Und dann waren da die Namen. Politiker, Unternehmer, Personen, die in der Stadt Respekt genossen. Lena spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie erkannte Namen, die sie aus den Gesprächen ihrer Brüder nur am Rande gehört hatte. Doch was sie hier vor sich sah, ließ keinen Zweifel: Sie waren die Drahtzieher. Vincent und Leon.
Ihre Hände zitterten, als sie die Dokumente auf den Tisch legte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Sie hatte ihre Brüder immer für Männer gehalten, die zwar moralisch flexibel waren, aber irgendwo Grenzen hatten. Doch jetzt… jetzt sah sie die Wahrheit. Sie waren nicht nur moralisch flexibel – sie waren gefährlich, skrupellos, und sie hatten die Welt zu ihrem Spielplatz gemacht. Für einen Moment schloss sie die Augen, doch die Bilder und Worte aus den Dokumenten brannten sich in ihr Gedächtnis ein. Eine Welle der Panik überkam sie, ihre Brust hob und senkte sich schnell, und ihre Hände griffen nach der Tischkante, um Halt zu finden. Einige der Dokumente rutschten dabei zu Boden, und das scharfe Rascheln des Papiers hallte durch den leeren Raum.
Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Der Wind, der durch einen zerbrochenen Fensterrahmen pfiff, klang für einen Moment wie ein Flüstern. Sie drehte sich hektisch um, doch der Raum blieb still. Lena zwang sich, tief durchzuatmen. Sie durfte nicht die Nerven verlieren. Sie griff hastig nach den heruntergefallenen Dokumenten und begann, einige der wichtigsten Seiten zusammenzufalten und in ihre Tasche zu schieben. Sie wusste, dass sie das hier nicht allein bewältigen konnte. Sie brauchte jemanden, dem sie vertrauen konnte. Ihr erster Gedanke war Nina. Nina würde verstehen.
Mit zittrigen Beinen verließ sie den versteckten Raum und schloss die Tür hinter sich. Als sie aus der Bibliothek trat, warf sie einen letzten Blick zurück. Der Raum, einst ein Zufluchtsort, fühlte sich jetzt wie eine stille Bedrohung an. Draußen wirkte der Garten noch düsterer, die Äste der Bäume schienen sie zurückzuhalten, als sie zum Auto lief. Sie stieg ein, ihre Hände umklammerten das Lenkrad, während sie den Motor startete. Der vertraute Geruch des Leders im Wagen half ihr nicht, die wachsende Angst in ihrem Inneren zu beruhigen.
Die Fahrt zurück in die Stadt war ein wirrer Strom aus Gedanken und Bildern. Sie sah die Gesichter ihrer Brüder vor sich, hörte ihre Stimmen. Sie hatte immer geglaubt, dass Vincent und Leon sie beschützten. Jetzt sah sie klar, dass sie selbst Teil des Systems gewesen war, ohne es zu wissen. Ihre Hände zitterten am Lenkrad, und sie zwang sich, ruhiger zu atmen. In ihren Gedanken formten sich erste Überlegungen. Wer außer Nina könnte helfen? Wen konnte sie noch kontaktieren? Und wie konnte sie die Informationen nutzen, ohne entdeckt zu werden? Ihre Entschlossenheit wuchs mit jedem vorbeiziehenden Kilometer, doch auch die Angst blieb.
Als sie vor Ninas Apartment anhielt und ausstieg, fühlten sich ihre Beine wie Blei an. Sie klopfte an die Tür, und das vertraute Rascheln von Ninas Schritten beruhigte sie für einen Moment. Als Nina die Tür öffnete und sie ansah, weiteten sich ihre Augen. „Lena? Was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
Lena trat ein, schloss die Tür hinter sich und ließ einen Moment den Duft von Ninas Tee auf sich wirken. Doch die Wärme des Ortes konnte die Kälte in ihr nicht vertreiben. „Ich… ich brauche deine Hilfe,“ flüsterte sie, ihre Stimme kaum hörbar.
Nina musterte sie besorgt und deutete auf den kleinen Küchentisch. „Setz dich. Erzähl mir, was passiert ist.“
Lena zog die Dokumente aus ihrer Tasche und breitete sie vor Nina aus. „Das ist passiert,“ sagte sie leise, während Nina begann, die Papiere durchzublättern. Ihre Freundin runzelte die Stirn, und ihre Augen wurden mit jeder Seite ernster.
„Lena… das ist unglaublich. Aber auch unglaublich gefährlich,“ sagte Nina schließlich. Ihre Stimme war ruhig, aber dahinter lag ein Hauch von Panik. „Wenn deine Brüder das herausfinden…“
„Ich weiß,“ unterbrach Lena. Ihre Stimme zitterte, doch sie zwang sich, stark zu bleiben. „Aber ich kann das nicht länger ignorieren. Meine Mutter hätte das nicht gewollt. Sie hätte niemals erlaubt, dass Vincent und Leon… dass sie so etwas tun.“
Ninas Hand legte sich auf Lenas Arm, eine Geste der Unterstützung und des Schutzes. „Lena, du musst vorsichtig sein. Das hier ist kein Spiel. Wir reden nicht nur von deiner Familie, sondern von Menschen, die vor nichts zurückschrecken.“
„Ich weiß,“ wiederholte Lena, aber diesmal klang ihre Stimme entschlossener. Sie blickte aus dem Fenster, auf die glitzernden Lichter der Stadt, die in der Ferne leuchteten. „Aber ich werde es trotzdem tun. Ich werde sie aufhalten.“
Nina sagte nichts. Ihre stille Zustimmung war alles, was Lena brauchte. Und damit wusste sie, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Es gab kein Zurück mehr.