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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Heimkehr in die Schatten des Waldes


Alyssa Weigel

Die Abende des Herbstes waren ein Versprechen aus düsterem Grau und schwelendem Gold, doch an diesem Tag war der Himmel ein kühles, trostloses Blau, das die Schatten des Schwarzwalds noch undurchdringlicher wirken ließ. Alyssa stand am Rand des Waldes, ihre Hände tief in die Taschen ihrer abgetragenen Jacke vergraben, und starrte auf die dunklen Umrisse der Bäume, die sich wie eine unwillkommene Einladung vor ihr auftürmten.

Es war zehn Jahre her, und doch fühlte sich jeder Schritt zurück in diese Stadt wie ein Verrat an. Nicht an der Vergangenheit, sondern an dem, was sie versucht hatte zu vergessen. Die Kälte kroch ihr in die Glieder, und sie zog die Jacke enger um sich, als sie mit der Schuhspitze einen kleinen Kieselstein vor sich hertrat.

Was wollte der Absender von ihr? Der Brief war mehr als nur ein Rätsel. Er war eine Forderung, eine Herausforderung. Koordinaten und eine kurze, spöttische Botschaft: „Du suchst Antworten, nicht wahr?“ Der Gedanke ließ sie nicht los. Wer hatte sie geschickt? War es ein Feind oder... jemand, der wusste?

„Warum jetzt?“, murmelte sie, die Worte so leise, dass sie kaum ihre eigenen Ohren erreichten.

Natürlich suchte sie Antworten. Schon immer. Aber der Schmerz, der an diese Suche geknüpft war, fühlte sich wie eine Strafe an, die sie sich selbst auferlegt hatte.

Das Haus, das sie gemietet hatte, lag einige Kilometer entfernt, nahe genug, um die Stadt zu erreichen, aber weit genug, um sich den neugierigen Blicken der Bewohner zu entziehen. Der Weg dorthin war schmal und von hohen Tannen gesäumt, deren Äste sich über ihr wie ein Gewölbe verflochten. Es fühlte sich an, als würde der Wald sie verschlucken. Die Luft roch nach feuchter Erde und altem Harz, und das Knirschen der trockenen Nadeln unter ihren Stiefeln war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach.

Je näher sie dem Haus kam, desto schwerer wurde ein unsichtbares Gewicht auf ihrer Brust. Die Erinnerungen an die Mordnacht, vor denen sie zehn Jahre lang davongelaufen war, kehrten zurück, flüsterten ihr zu, dass sie hier keine Ruhe finden würde.

Das Haus selbst war nichts Besonderes – eine kleine, einstöckige Hütte mit einem schiefen Dach und blinden Fenstern. Es lag direkt an der Grenze zum Wald, so still und abseits, dass es fast wie ein Teil davon wirkte. Eine leise Prise ließ die nackten Zweige der Büsche vor der Veranda klappern, und Alyssa spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, als sie die Schlüssel aus der Tasche zog.

Die Hütte war spärlich eingerichtet. Ein alter Holzofen in der Ecke, ein zerkratzter Tisch mit zwei Stühlen und ein abgenutztes Sofa. Die Wände waren mit dunklem Holz verkleidet, das im schwachen Licht des Nachmittags fast wie Schwarz wirkte. Es gab kaum persönlichen Charme, nichts, was auf ein Leben hinwies, das hier jemals stattgefunden hatte. Es war perfekt.

Nachdem sie ihren Rucksack auf das Sofa geworfen hatte, begann sie, den Raum zu erkunden. Ihre Schritte hallten dumpf auf dem Holzboden, und sie fühlte sich wie eine Einbrecherin in ihrem eigenen Leben. Die Küche war winzig, mit einem alten Gasherd und einer Spüle, deren Wasserhahn rostige Spuren hinterlassen hatte. Ein kleiner Gang führte zu einem Schlafzimmer, in dem ein klappriges Bett und ein Schrank standen. Es war einfach, steril, und doch spürte sie, wie etwas Unbehagliches in der Luft hing – eine seltsame Schwere, die sie nicht abschütteln konnte.

Sie schob den Gedanken beiseite, zog die Vorhänge zu und begann, ihre wenigen Habseligkeiten auszupacken. Kleidung, ein Notizbuch, ihre Waffe – ein kleines Messer, das fast unscheinbar aussah, aber einen schmalen Silberrand an der Klinge hatte. Es war das einzige, was sie von ihrer Großmutter behalten hatte, die ihr immer wieder eingeschärft hatte, wie wichtig es war.

„Du weißt nie, was da draußen lauert“, hatte die alte Frau gesagt, ihre Stimme ein knorriges Flüstern, das bis heute in Alyssas Gedanken nachhallte. Die Erinnerung an ihre Großmutter war eine von wenigen, die nicht durch Blut befleckt war.

Die Ankunft in der Stadt war anders verlaufen, als sie erwartet hatte. Die wenigen Gesichter, die sie gesehen hatte, wirkten fremd, und doch glaubte sie, in einigen die Spuren von Erinnerungen zu erkennen. Es war, als hätte die Stadt selbst beschlossen, sie auszulöschen, sie zu ignorieren. Niemand sprach sie an, niemand musterte sie länger als nötig, und das Schweigen war fast erdrückender als neugierige Blicke.

Doch sie wusste, dass sie nicht vergessen war. Nicht wirklich.

Später am Abend, als die Dunkelheit die Fenster verschluckte und der Wald vor den Mauern drohend still wurde, setzte sie sich an den alten Tisch und zog den Brief aus ihrer Jackentasche. Das Papier war dünn und vergilbt, die Schrift kantig und ungeduldig. Sie las die Worte erneut, obwohl sie sie längst auswendig kannte.

„Lichtung. 48.114, 8.452. Du wirst finden, was du suchst.“

Die Koordinaten waren eindeutig. Sie führten zu einem Ort, den sie kannte, auch wenn sie ihn niemals besucht hatte. Der Verlassene Hof – der Schauplatz eines Massakers, ein Ort, der Geschichten und Gerüchte nährte wie ein hungriger Schlund.

Warum hatte sie diesen Brief erhalten? Wer wusste, dass sie nach Antworten suchte? Ihr Herz zog sich zusammen, als sie an den Hof dachte. Bilder von Blut und Schreien tauchten in ihrem Geist auf, Schatten, die sich nicht vertreiben ließen.

Alyssa legte den Brief zur Seite und starrte auf die Karte, die sie in der Stadt gekauft hatte. Sie hatte die Koordinaten markiert, eine rote, aggressive Linie, die sie direkt in die Mitte des Waldes führte.

„Was willst du von mir?“ Ihre Stimme klang rau, ein Flüstern voller Frustration und Schmerz.

Dann nahm sie ihre Kette in die Hand – die Kette ihrer Mutter, die sie niemals ablegte. Der kleine, silberne Anhänger war kühl und beruhigend in ihrer Handfläche, doch der Gedanke an ihre Mutter brachte keinen Trost. Nur den bitteren Geschmack von Schuld und Verlust.

Ein Bild blitzte in ihrem Geist auf: Ihre Mutter, wie sie die Kette um ihren Hals legte, ihr einen kurzen Moment der Wärme schenkte, bevor alles in Blut versank. Der Schmerz war so scharf, dass Alyssa die Kette abrupt losließ, als hätte sie sich verbrannt.

Mit einem Seufzen lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Doch die Dunkelheit hinter ihren Lidern war schlimmer als die vor ihr. Sie sah die Schatten der alten Nacht, hörte das Grollen, das Knacken von Knochen und das entsetzliche Geräusch, mit dem ihre Mutter gefallen war.

Alyssa öffnete die Augen und richtete sich abrupt auf.

Schlafen war unmöglich.

Sie griff nach ihrer Jacke und trat auf die Veranda hinaus. Der Wald erstreckte sich wie eine lebendige Wand vor ihr, und sie konnte kaum die Bewegung der Nacht darin ausmachen. Aber sie spürte sie. Es war, als würde der Wald atmen, ein leises, pulsierendes Leben, das sie an den Rand der Veranda zog.

Ein Laut ertönte, leise und doch unüberhörbar.

Ein Knacken von Zweigen.

Alyssa blieb abrupt stehen, ihre Hand griff instinktiv nach der Klinge in ihrer Tasche. Der kalte Stahl war ein beruhigendes Gewicht in ihrer Handfläche, doch ihr Herz raste. Sie spürte, wie ihr Atem flacher wurde, wie sich ein Schweißfilm auf ihrer Haut bildete.

Ihre Augen suchten die Dunkelheit ab, starrten in die Schatten, die sich wie lebendige Wesen bewegten. Ein Teil von ihr wollte glauben, dass es nur der Wind war, dass die Zweige zufällig knackten. Aber der drückende, unerbittliche Blick, den sie spürte, war zu real.

Nichts. Nur die Stille des Waldes, die noch erdrückender schien als zuvor.

„Du bist paranoid“, murmelte sie leise zu sich selbst, doch ihre Stimme klang hohl.

Sie blieb noch eine Weile stehen, den Blick ins Nichts gerichtet, bevor sie sich schließlich wieder ins Haus zurückzog. Die Tür schloss sie fest hinter sich ab, und diesmal ließ sie das Messer in ihrer Hand, als sie sich in den Sessel setzte und die Dunkelheit über sie hereinbrach.

Doch selbst mit geschlossenen Türen und verschlossener Faust fühlte sie sich nicht sicher. Der Wald hatte Augen, und sie wusste, dass sie beobachtet wurde.

Hinter den Bäumen, in den undurchdringlichen Schatten, glimmten für einen flüchtigen Moment zwei bernsteinfarbene Augen auf – gerade lange genug, um sie zu bestätigen, bevor sie wieder verschwanden.