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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Schockwellen


Lina

Der schrille Klang des Weckers durchschnitt die Stille wie ein scharfes Messer. Lina Bergman öffnete die Augen, nur um in das schummrige Licht des grauen Morgens zu blicken, das durch die bodentiefen Fenster ihres Penthouses drang. Der Regen hatte aufgehört, doch die Straßen glänzten noch feucht unter dem bleiernen Himmel. Der Anblick der erwachenden Stadt war vertraut und kalt, ein Spiegel ihres inneren Zustands.

Sie schwang ihre Beine aus dem Bett, die nackten Füße berührten den kühlen Holzfußboden. Ihre Bewegungen waren mechanisch, fast träge. Die Müdigkeit, die sie spürte, war kein rein physisches Phänomen – es war ein mentales Gewicht, das schwer auf ihren Schultern lastete, ein unsichtbarer Schleier aus Verantwortung und Zweifeln.

„Guten Morgen, Lina. Ihr Terminkalender ist heute leer. Soll ich Ihnen Kaffee vorbereiten?“ Die sanfte, nüchterne Stimme ihres Smart-Home-Systems hallte durch den stillen Raum, doch sie ignorierte die Frage. Stattdessen ging sie ins Badezimmer, wo das kalte, unbarmherzige Gesicht im Spiegel sie begrüßte. Ihre grauen Augen waren schwer, die Schatten darunter ein stummer Hinweis auf die schlaflosen Nächte, die sie hinter sich hatte.

Die erfrischende Kälte des Wassers prallte auf ihre Haut, während sie unter der Dusche stand. Doch bevor sie der Routine nachgeben konnte, durchbrach das schrille Piepen ihres Tablets die trügerische Ruhe. Lina drehte das Wasser ab, wickelte sich hastig in ein Handtuch und eilte in den Wohnbereich. Der vibrierende Bildschirm auf dem Tisch schien sie anzuziehen. Der Name, der auf dem Display erschien, ließ sie innehalten: Henrik Falk.

Ein flüchtiger Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Warum jetzt? Sie hatte gehofft, den ersten Schritt in dieser unausweichlichen neuen Dynamik machen zu können. Doch bevor die Überlegungen sie überwältigen konnten, nahm sie den Anruf an.

Henrik erschien auf dem Bildschirm, seine Züge wie aus Stein gemeißelt, das silberne Haar makellos, sein Lächeln perfekt – zu perfekt. Es versprach Anteilnahme und verriet gleichzeitig eine unterkühlte Berechnung, die sie sofort spürte.

„Lina,“ begann er, seine Stimme samtig und höflich, doch mit einem Unterton, der ihr Herz unwillkürlich schneller schlagen ließ, „ich möchte dich nicht unnötig stören, aber ich habe traurige Neuigkeiten.“

Sie hielt den Atem an, die Spannung in ihrem Körper wuchs, während sie auf das wartete, was kommen würde.

„Dein Vater hatte gestern Abend einen Unfall. Es tut mir leid.“

Die Worte trafen sie wie ein unerwarteter Schlag in den Magen. Ihre Augenlider flatterten, ihre Finger krallten sich unbewusst in das Handtuch, das sie umschlungen hielt. Doch ihre Stimme, ruhig und kontrolliert, brach durch die aufkommende Leere. „Was für ein Unfall?“

Henrik zögerte. Es war ein winziger Moment, kaum wahrnehmbar, und doch bedeutungsvoll. „Ein Autounfall. Die Straße war nass, und die Bremsen haben versagt. Die Polizei untersucht die Umstände noch. Aber... es tut mir wirklich leid, Lina. Dein Vater war ein außergewöhnlicher Mann.“

„Außergewöhnlich“, wiederholte sie, fast mechanisch. Das Wort schmeckte bitter in ihrem Mund. Sie spürte, wie Henriks Blick sie durchdrang, wie er jede ihrer kleinsten Reaktionen analysierte. Also zwang sie sich, die Kontrolle zu bewahren.

„Danke, dass Sie mich informiert haben,“ sagte sie mit einer Knappheit, die keinerlei Einladung zur Fortsetzung des Gesprächs enthielt.

Henrik legte den Kopf leicht schief, ein Ausdruck eines Mannes, der genau wusste, wie er sein Gegenüber manipulieren konnte. „Wenn du irgendetwas brauchst, lass es mich wissen. Und ich wollte dir sagen, dass der Vorstand voll und ganz hinter dir steht. Es wird nicht einfach, aber ich bin sicher, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist.“

Lina nickte knapp, ihre Gedanken rasten bereits, noch bevor das Gespräch endete. Als der Bildschirm schließlich erlosch, ließ sie das Tablet langsam sinken. Einen Moment lang verharrte sie reglos, ihr Blick wanderte durch den Raum – die minimalistischen Möbel, die sterilen Oberflächen, die wie ein Spiegel ihrer inneren Leere wirkten.

Doch das grelle Licht des Tablets flackerte erneut. Eine neue Nachricht war eingegangen, anonym. Ein merkwürdiges Symbol begleitete sie, ein unmerklich verzerrtes Icon, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Sie öffnete die Datei, die einzige Zeile darin zog sich wie ein scharfer Schnitt durch ihre Gedanken:

„Nichts ist, wie es scheint.“

Linas Herzschlag beschleunigte sich, während ihre grauen Augen die Worte fixierten. Der Satz schien in ihrem Kopf widerzuhallen, während tausend Fragen gleichzeitig auf sie einstürmten. War das ein Zufall? Eine Warnung? Oder etwas viel Größeres?

Instinktiv verschlüsselte sie die Nachricht mit einem dreifachen Sicherheitsprotokoll, ihre analytische Natur übernahm die Kontrolle. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass diese Worte nicht ignoriert werden konnten.

Ein weiteres Klingeln lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ihr Smartphone. Der Name „Sofia Nilsson“ erschien auf dem Display, und ein Anflug von Erleichterung durchbrach die Kälte.

„Lina! Ich habe es gerade in den Nachrichten gesehen. Es tut mir so leid. Geht es dir gut?“ Sofias lebendige Stimme durchbrach die Stille ihres Penthouses wie ein warmer Lichtstrahl.

Linas Kehle fühlte sich trocken an. „Danke, Sofia. Es ist... viel. Aber ich komme klar.“

„Komm schon, Lina. ‚Klar kommen‘ bedeutet bei dir, alles zu verdrängen, bis du irgendwann explodierst. Willst du reden?“

Ein schwaches, fast unfreiwilliges Lächeln huschte über Linas Gesicht. „Noch nicht. Aber ich brauche deine Hilfe.“

Sofias Ton wurde sofort geschäftig, ihre Energie schien durch das Telefon zu strömen. „Was immer du brauchst.“

Lina zögerte einen Moment, bevor sie sprach. „Ich habe eine Nachricht erhalten. Anonym. Es könnte nichts sein... aber ich habe ein Gefühl, dass es mehr ist. Kannst du herausfinden, woher sie kam?“

„Schick sie mir. Aber Lina, sei vorsichtig. Wenn jemand dich jetzt schon ins Visier nimmt, ist es vielleicht kein Zufall.“

„Ich weiß“, antwortete Lina mit ruhiger Bestimmtheit. „Deshalb brauche ich dich.“

„Immer“, sagte Sofia, und ihre Stimme trug eine Wärme, die Lina half, ihre innere Unruhe für einen Moment zu bändigen.

Nachdem sie aufgelegt hatte, richtete Lina ihren Blick auf die Stadt, die sich langsam aus dem Morgengrauen erhob. Ihre Entschlossenheit wuchs, während sie die Worte noch einmal in ihren Gedanken wiederholte: „Nichts ist, wie es scheint.“ Der Verlust ihres Vaters war ein Schock, aber er würde sie nicht lähmen. Sie würde die Wahrheit finden – koste es, was es wolle.