Kapitel 3 — Thronfolge im Schatten
Lina
Der Wind peitschte über die gläserne Fassade des BergTech-Hauptquartiers, während Lina mit energischen Schritten die breite Treppe zum Eingangsbereich hinaufging. Die glänzenden, makellos geputzten Glasscheiben spiegelten die graue Wolkendecke wider, die sich wie ein Vorbote von Sturm und Chaos über die Stadt legte. Der Anblick des Gebäudes, das ihr Vater einst als Symbol für Macht und Innovation hatte errichten lassen, hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Jetzt, da sie hier war, um die Verantwortung zu übernehmen, die er hinterlassen hatte, spürte sie das Gewicht seiner Entscheidungen schwerer denn je. Sie zwang sich, ihren Schritt zu beschleunigen, als wolle sie die Unsicherheit abschütteln, die ihr im Nacken saß.
Die Drehtür des Haupteingangs drehte sich lautlos, und Lina trat in die sterile Lobby. Der Raum war kühl, makellos, mit polierten Marmorböden und einer minimalistischen Einrichtung, deren Grautöne vom kalten Licht der Deckenpaneele verstärkt wurden. Vereinzelt standen Angestellte in Gruppen zusammen, ihre Gespräche erstarben, als Lina den Raum betrat. Köpfe drehten sich in ihre Richtung, und flüsternde Stimmen begleiteten ihren Weg, doch Lina hielt ihren Blick geradeaus, ihre Haltung aufrecht. Eine Mischung aus Nervosität und Entschlossenheit kochte in ihrem Inneren, doch sie würde niemals zulassen, dass die anderen das sahen.
„Ms. Bergman,“ begrüßte sie eine kühle Stimme von der Seite. Henrik Falk trat auf sie zu, seine Präsenz so geschmeidig und unaufdringlich wie das Geräusch des Marmors unter ihren Absätzen. Sein akkurater, dunkelgrauer Anzug schien eigens entworfen, um seine dominierende Haltung zu unterstreichen. Der Duft seines teuren Parfüms war subtil, aber unübersehbar, und seine silbergrauen Augen schimmerten wie die Reflektion eines Raubtiers. „Willkommen zurück. Wir haben bereits auf Sie gewartet.“
„Henrik.“ Linas Ton blieb ebenso kontrolliert wie ihr Ausdruck, während sie ihm die Hand reichte. Seine Fingerspitzen waren kühl, als würden sie keine Wärme aufnehmen können. „Danke, dass Sie das Meeting so kurzfristig arrangiert haben.“
„Es war natürlich kein Problem.“ Sein Lächeln war höflich, doch seine Augen musterten sie mit einer Mischung aus Neugier und Berechnung. „Wir alle wissen, wie wichtig dieser Übergang ist – für das Unternehmen und für Sie.“
„Übergang.“ Sie wiederholte das Wort nur für sich gedanklich, während sie ihm folgte. Es klang in seinem Mund wie eine leere Worthülse, eine weitere Möglichkeit, die Kontrolle zu behaupten. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Die Drehtüren des Aufzugs öffneten sich, und Lina trat ein, gefolgt von Henrik.
Das Summen des Motors war das einzige Geräusch während der Fahrt zur Vorstandsetage. Die Stille war unangenehm, fast greifbar, unterbrochen von Henriks gelegentlichen, schnellen Blicken zu ihr, die sie in der reflektierenden Oberfläche der Türen bemerkte. Sie hielt ihren Kopf hoch, fixierte ihren eigenen Blick und ignorierte die unterschwellige Spannung, die sich zwischen ihnen ausbreitete.
Der Korridor der Vorstandsetage war in kaltes, steriles Licht getaucht. Die Wände, in mattem Grau gehalten, waren mit abstrakten Kunstwerken geschmückt, die weder Trost noch Inspiration boten. Vor ihr lag der Konferenzraum – eine Festung aus Glas und Stahl. Lina spürte, wie sich ihre Schultern unmerklich anspannten, als Henrik die Tür öffnete und einen minimalen Bogen schlug, um ihr den Vortritt zu gewähren.
Der Raum war mit einer ovalen Tafel ausgestattet, um die sich bereits mehrere Vorstandsmitglieder versammelt hatten. Ihre Gesichter waren vertraut, doch in ihren Blicken lag eine Mischung aus Skepsis und höflicher Zurückhaltung. Die Atmosphäre war kühl, beinahe frostig, und erinnerte sie an einen Gerichtssaal.
„Willkommen, Ms. Bergman,“ sagte eine ältere Frau mit strengem Dutt und einem Tonfall, der Respekt imitierte, ohne ihn wirklich zu empfinden. „Wir schätzen es, dass Sie sich so schnell eingefunden haben, trotz... der Umstände.“
„Vielen Dank,“ antwortete Lina mit ruhiger Stimme und ließ ihren Blick langsam um den Tisch wandern. Die Blicke, die sie traf, waren undurchdringlich, die Masken perfekt. Es war, als sähen sie sie nicht als Anführerin, sondern als Eindringling, der einen Platz einnahm, der ihm nicht zustand.
Henrik setzte sich an die lange Seite des Tisches und bedeutete Lina, gegenüber Platz zu nehmen. „Bevor wir beginnen, möchte ich im Namen des gesamten Vorstands mein Beileid für Ihren Verlust aussprechen,“ sagte er mit einer Stimme, die so glatt war wie die Oberfläche des Tisches.
„Vielen Dank.“ Ihre Stimme war ruhig, trotz der Kälte, die durch ihre Brust kroch. Unter der Tischkante umklammerten ihre Finger den Rand ihres Stuhls. „Ich hoffe, dass wir trotz der Umstände schnell zu einer produktiven Zusammenarbeit finden werden.“
Das Meeting begann mit den üblichen Formalitäten – Berichte, Zahlen, Prognosen. Henrik führte die Diskussion mit der Präzision eines Schachspielers, lenkte die Gespräche in eine Richtung, die ihm passte, und ließ dabei keinen Zweifel daran, dass er die Zügel in der Hand hielt.
„Natürlich steht der Vorstand bereit, Sie bei Ihrer neuen Rolle zu unterstützen,“ sagte Henrik, als das Meeting sich dem Ende zuneigte. „Ich bin sicher, dass Sie sich schnell einarbeiten und die richtigen Entscheidungen für BergTech treffen werden.“
Seine Worte waren freundlich, doch die Doppeldeutigkeit war unverkennbar. Lina erwiderte seinen Blick mit unbewegter Miene. „Ich bin mir sicher, dass wir alle das Beste für BergTech im Sinn haben.“
Als die Sitzung vorbei war und die Vorstandsmitglieder sich zerstreuten, blieb Lina noch einen Augenblick zurück. Sie beobachtete Henrik, wie er sich mit einem weiteren Mitglied unterhielt, seine Haltung entspannt, aber wachsam. Er erinnerte sie an einen Jäger, der seine Beute bereits markiert hatte.
Sie verließ den Raum und begab sich in ihr neues Büro, das am Ende eines langen Ganges lag. Die Doppeltüren öffneten sich geräuschlos, und sie betrat einen Raum, der größer und kühler war, als sie erwartet hatte. Die Wände waren in einem sterilen Grau gehalten, die Möbel aus dunklem Holz. Auf dem Schreibtisch lag ein holographisches Display, das automatisch aufleuchtete, als sie näher kam.
Ihr Blick blieb an der Ecke der Decke hängen, wo eine kleine Kamera installiert war – unauffällig, aber nicht unsichtbar. Sie war kein Standardmodell. Der Gedanke, dass jemand sie möglicherweise überwachte, ließ ihre Haut prickeln.
Ihre Finger glitten über das Display auf ihrem Schreibtisch, und sie begann, die Sicherheitsprotokolle des Raumes zu überprüfen. Es dauerte nicht lange, bis sie erkannte, dass das Netzwerk ungewöhnlich komplex war. Es gab Zugänge, die nicht zu den üblichen Sicherheitsroutinen von BergTech gehörten.
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sofia betrat den Raum, ihre lebhaften grünen Augen blitzten vor Besorgnis. „Na, wie geht’s der neuen CEO?“ fragte sie mit einem aufmunternden Lächeln.
„Beobachtet,“ antwortete Lina trocken und deutete auf die Kamera.
Sofia trat näher, runzelte die Stirn und musterte das Gerät. „Das sieht nicht gut aus. Soll ich jemanden fragen, der das für dich untersucht?“
„Nein. Ich mache das selbst. Aber danke.“
Sofia nickte, verschränkte die Arme und blieb einen Moment still, als wolle sie noch etwas sagen. Dann legte sie ihre Hand auf Linas Schulter. „Ich weiß, dass das schwer für dich ist, Lina. Aber du bist stärker, als du denkst.“
Ein schwaches Lächeln zuckte über Linas Lippen, bevor sie sich wieder dem Display zuwandte. Sofia verließ den Raum, und die Tür schloss sich lautlos hinter ihr. Es gab zu viele Fragen, zu viele Lücken. Doch eines wusste Lina sicher: Nichts war, wie es schien.