Kapitel 3 — Heimkehr nach Morgenhain
Lena Stein
Der Wind trieb klebrigen Nebel durch die engen Straßen von Morgenhain, wie ein lebendiger Schleier, der die Mauern der strohgedeckten Hütten zu umarmen schien. Schutzamulette aus Holz und Silber baumelten leise klirrend an den Türen und Fenstern, ein Symbol für die tief verwurzelte Angst der Dorfbewohner vor dem Übernatürlichen. Lena hielt inne, betrachtete die vertrauten Straßen, die ihr nun fremd erschienen. Das Dorf wirkte wie ein Relikt aus der Vergangenheit, ein Ort, der sich gegen jede Veränderung sträubte.
Sie stieß die schwere Holztür ihres Elternhauses auf, die unter ihrem Griff knarrte. Der vertraute Geruch von altem Holz, Asche und feuchtem Moos schlug ihr entgegen – eine Erinnerung, die sich wie ein Dolch in ihre Brust bohrte. Jahre waren vergangen, und doch schien sich hier nichts verändert zu haben. Es war, als hätte die Zeit in Morgenhain aufgehört zu existieren, während sie draußen in der Welt verlorenging.
Ihre Schwester Elza stand am Herd, die Hände in dampfendem Wasser. Ihr Gesicht war gezeichnet von Härte und Müdigkeit, die Lena nicht in Erinnerung hatte. Dasselbe kastanienbraune Haar, dieselben Sommersprossen – und doch waren sie wie Fremde. Elza blickte auf, als sie Lenas Schritte hörte, und in ihren grün-grauen Augen blitzte nicht die Wärme, die Lena sich insgeheim gewünscht hatte, sondern eine kühle Abwehr.
„Du bist zurück.“ Elzas Stimme war nüchtern, beinahe schneidend, und sie wischte sich die Hände an einem alten Tuch ab. „Was für eine Überraschung.“
Lena öffnete den Mund, um zu antworten, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie ließ ihre Tasche auf den knarrenden Holzboden fallen und suchte nach etwas, das sie sagen konnte, doch alles wirkte falsch. Ihre Augen wanderten durch den Raum, der kleiner und bedrückender wirkte, als sie ihn in Erinnerung hatte. Die einst vertrauten Wände schienen sie zu erdrücken.
„Vater?“ Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.
„Oben.“ Elza drehte sich wieder zum Herd, ihre Bewegungen abrupt. „Aber er schläft. Nicht, dass es dich jemals interessiert hätte.“
Der Stich war präzise, ein meisterhaft platzierter Hieb, der Lena unvorbereitet traf. Sie atmete tief durch, um ihre Fassung zu bewahren, und entschied, nichts zu entgegnen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, über die sie die Kontrolle zu verlieren drohte. Sie war gekommen, um ihren Vater zu sehen, nicht, um auf alte Wunden Salz zu streuen.
Die Stufen knarrten unter ihren Stiefeln, während sie die schmale Treppe hinaufstieg. Ihre Finger glitten über das Geländer, dessen Holz rau und rissig war, als hätte es die Last der Jahre ebenso getragen wie die Bewohner dieses Hauses. Das Zimmer ihres Vaters lag in Dunkelheit, nur das schwache Glimmen eines heruntergebrannten Kerzenstummels tauchte die Ecken des Raumes in ein flackerndes Licht. Der Geruch von Kräutern, Krankheit und altem Staub hing schwer in der Luft.
Ihr Vater war kaum wiederzuerkennen. Seine einst kräftige Gestalt war eingefallen, die Haut spannte sich dünn und blass über seine Knochen. Seine Hände, die früher Werkzeuge mit müheloser Stärke gehalten hatten, lagen reglos auf der Decke, die seinen Körper bedeckte.
„Papa,“ flüsterte Lena, doch er reagierte nicht. Sie setzte sich langsam auf die Bettkante, beobachtete seine schmalen Schultern, die sich mühsam hoben und senkten. Schuld und Schmerz stiegen in ihr auf, ein schwerer Kloß in ihrer Kehle. Warum war sie so lange fortgeblieben? Warum hatte sie es nicht geschafft, zurückzukehren, als er sie gebraucht hatte?
„Er hat bessere Tage gesehen,“ erklang Elzas Stimme hinter ihr. Lena fuhr herum. Ihre Schwester stand im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, ihr Blick kalt.
„Du hast ihn alleine gelassen.“ Der Vorwurf war klar, doch Elzas Stimme zitterte leicht. „All die Jahre. Du und deine... Abenteuer. Die ganzen Rechnungen, die langen Nächte, die Fragen der Dorfbewohner. Was glaubst du, wie oft ich sie ertragen musste, während sie über dich redeten? Über uns. Über den Fluch.“
Lena zuckte bei dem Wort zusammen. Der Fluch – ein unausgesprochener Schatten, der über ihrer Familie lag. Die Luft im Raum schien sich zu verdichten, als Elza fortfuhr.
„Es war schwer genug, ohne ständig erklären zu müssen, warum meine Schwester irgendwo in der Weltgeschichte herumläuft, während ich hier bleibe und alles zusammenhalte.“
„Ich wollte nicht—“ begann Lena, doch Elza schnitt ihr das Wort ab.
„Nein, hör mir zu.“ Ihre Schwester trat einen Schritt vor, ihre Stimme brüchig, aber beherrscht. „Wir haben ihn verloren, Lena. Du hast ihn verloren. Du hast Mutter verloren. Und jetzt kommst du zurück und tust so, als könntest du das alles wieder reparieren?“
Lena kämpfte um Worte, doch alles, was sie sagen wollte, fühlte sich unzureichend an. Sie stand auf, ohne ihre Schwester anzusehen, und schob sich an ihr vorbei in den Flur. Doch Elzas Worte klangen in ihren Gedanken nach, wie eine Wunde, die nicht heilen wollte.
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Später, als die Nacht das Dorf in völlige Dunkelheit hüllte und die Schatten des Hauses im schwachen Kerzenlicht zitterten, saß Lena allein am Küchentisch. Vor ihr lag ein Notizbuch, dessen Seiten mit Aufzeichnungen über den Fluch bedeckt waren. Die Worte, die sie aus Archiven und alten Legenden zusammengetragen hatte, schienen keine Antworten zu geben, nur weitere Fragen. Ihre Finger strichen über die vergilbten Seiten, während ihre Gedanken zu ihrem Vater und ihrer Schwester wanderten, zu den unausgesprochenen Schuldgefühlen, die sie quälten.
Ihr Blick fiel auf die Tischplatte, die von eingeritzten Symbolen übersät war. Langsam fuhren ihre Finger über die groben Linien. Ein kaltes Kribbeln lief ihr den Rücken hinunter, und ein Bild blitzte in ihrem Kopf auf – der Ring, der silbrig-bläulich in der Höhle geleuchtet hatte. Es waren dieselben Symbole.
„Das war Mutter,“ erklang Elzas Stimme aus dem Schatten. Lena blickte auf, überrascht, ihre Schwester zu sehen. Elza hielt eine Tasse Tee in der Hand, ihre Haltung wirkte erschöpft, aber weniger angespannt. Sie setzte sich auf einen der Stühle und starrte auf die Symbole.
„Sie hat sie nach Vaters Unfall angefangen,“ fuhr Elza fort, ihre Stimme leiser als zuvor. „Sie hat gesagt, sie würden ihn beschützen.“
„Beschützen wovor?“ Lenas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Vor sich selbst. Vor dem Fluch. Vor allem.“ Elza sprach das letzte Wort mit einer Bitterkeit aus, die Lena erstarren ließ. „Ich weiß nicht, ob es je etwas gebracht hat. Aber sie hat daran geglaubt.“
Lena suchte nach Worten, wollte etwas sagen, das die Leere zwischen ihnen füllen konnte, doch stattdessen starrte sie auf die Symbole, die in den Tisch geritzt waren. Ihre Mutter war ein Rätsel gewesen, ein Buch voller Geheimnisse, das Lena nie zu entschlüsseln vermocht hatte. Und nun war dieses Buch für immer verschlossen.
„Lena,“ begann Elza plötzlich und sah ihr direkt in die Augen. „Ich weiß nicht, was du suchst. Aber wenn es mit dem Fluch zu tun hat, dann mach dich darauf gefasst, dass es dich zerstört.“
Lenas Kehle war trocken, doch sie zwang sich zu einer Antwort. „Ich habe keine Wahl. Es ist meine Verantwortung.“
Elza schnaubte trocken, stellte ihre Tasse ab und erhob sich. „Das habe ich auch mal gedacht.“ Sie verschwand in der Dunkelheit des Hauses, ihre Schritte verhallten auf den Holzdielen.
Zurück blieb Lena, allein mit den eingeritzten Symbolen und der bedrückenden Stille des Hauses. Sie konnte sich nicht helfen – es fühlte sich an, als würden die Zeichen sie zu etwas rufen, das sich hinter der Oberfläche ihrer Welt verbarg. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.
Draußen ertönte ein Wolf, sein Heulen durchschnitt die Nachtluft und ließ Lenas Herz schneller schlagen. Sie wandte den Blick zum Fenster, doch der Nebel verschluckte alles. Das unbehagliche Gefühl in ihrem Inneren wuchs. Es war, als hätte sich etwas in Bewegung gesetzt – etwas, das sie nicht mehr aufhalten konnte. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie bereit war, alles zu riskieren, um die Wahrheit zu finden.