Kapitel 3 — Flüstereien und Schatten
Clara und Alexander
Das erste Licht des Morgens schien durch die hohen, kunstvoll verzierten Fenster der Bibliothek von Schloss Hohenstein. Clara saß auf einem gepolsterten Sessel nahe dem Kamin, dessen Glutreste noch ein schwaches, rotes Leuchten verbreiteten. Ihre Finger glitten über den Ledereinband eines alten Buches, doch ihre Gedanken waren weit entfernt. Die Stimmen und Gesichter des gestrigen Balls hallten noch in ihrem Kopf wider. Der Tanz mit Alexander von Hohenstein hatte eine Spur in ihrer Seele hinterlassen, so tief, dass sie kaum zu deuten wagte, was sie empfand. Seine Nähe, der Ausdruck in seinen Augen – darin lag etwas, das wie ein Versprechen wirkte, aber auch eine Gefahr ahnen ließ.
Ein Geräusch riss sie aus ihrem Grübeln. Ein sachtes Flüstern, kaum mehr als ein Hauch, drang aus dem hinteren Teil der Bibliothek. Clara hielt inne, ihre Hand verharrte auf der Buchseite, und sie lauschte. Es war nicht die Art von Geräusch, die ein Buch oder der Wind verursachte. Es waren Stimmen. Leise, gedämpft, als ob sie nicht gehört werden sollten.
Clara stand langsam auf. Ihre Finger berührten instinktiv das Medaillon, das sie unter ihrem Kleid trug – das Bild ihres Vaters, das darin verborgen lag, schien sie mit neuer Entschlossenheit zu erfüllen. Die hohen Regale, die wie stumme Wächter die Geheimnisse der Familie Hohenstein bewahrten, warfen lange Schatten in den Raum. Vorsichtig ging sie in die Richtung des Geräuschs, während ihre Gedanken um die Möglichkeit kreisten, dass dieses Gespräch mit ihm zu tun haben könnte – mit dem Mann, der einst ihre Welt bedeutet hatte und dessen Name nun wie ein dunkles Geheimnis über der Familie lastete.
Je näher sie den Stimmen kam, desto klarer wurden die Worte, doch ihre Bedeutung entzog sich ihr noch. Es war ein Gespräch zwischen zwei Männern. Ihre Stimmen schienen aus einer halb geschlossenen Tür zu kommen, tief im hintersten Bereich der Bibliothek.
„Es ist zu riskant“, sagte die erste Stimme, rau und flüsternd, als ob sie vor Angst erzitterte. „Wenn sie weiterhin Fragen stellt … es könnte alles offenlegen.“
Die zweite Stimme, tiefer und kälter, antwortete mit einer Ruhe, die Clara eine Gänsehaut über den Rücken jagte. „Dann sorgt dafür, dass sie aufhört. Wir können es uns nicht leisten, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.“ Eine Pause folgte, dann ein scharfes Einatmen. „Und wenn sie zu viel erfährt … dann müssen wir Maßnahmen ergreifen.“
Claras Atem stockte. Die Worte bohrten sich in ihren Verstand, und sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Die Bedrohung war unmissverständlich, und sie spürte, dass dies nicht nur die Hohensteins betraf – es könnte auch sie selbst betreffen. Und doch war da etwas in ihrer Stimme, das sie hoffen ließ. Eine Erwähnung, so vage sie auch war, die auf ihren Vater hinzudeuten schien.
Vorsichtig trat sie weiter vor. Jede Bewegung fühlte sich an wie ein Balanceakt auf einem schmalen Grat. Sie spähte um eine Ecke, doch die Männer waren hinter einer halb geschlossenen Tür verborgen. Ihre Gesichter konnte sie nicht sehen. Ein plötzliches Knarren ließ sie zusammenzucken. Die Tür bewegte sich leicht, und Clara erstarrte. Ihre Hände krallten sich in den Stoff ihres Kleides, während sie sich hastig hinter ein nahegelegenes Regal duckte. Schritte hallten über den hölzernen Boden, die sich rasch entfernten. Sie wagte es erst einige Augenblicke später, wieder hervorzuschauen. Der Raum war leer. Die Männer waren fort.
Clara atmete schwer aus. Die Bedeutung der Worte schien wie ein Schatten über ihr zu hängen. Sie hatte keine Namen gehört, keinen klaren Hinweis darauf, worum es ging. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dies mit ihrem Vater zu tun haben musste – und mit der Wahrheit, die sie so verzweifelt suchte.
***
Alexander von Hohenstein stand in seinem Arbeitszimmer, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, während er durch das große Fenster hinaussah. Der Morgen war klar, doch die Kälte des Herbstes hatte sich in die Mauern des Schlosses geschlichen. Ein dünner Reif überzog die steinernen Balustraden, und die ersten Krähen zogen in der Ferne über die Wälder. Hinter ihm saß Johann von Hohenstein an einem kleinen Tisch, auf dem ein Stapel Papiere lag. Sein Gesicht war ein Abbild von Selbstbeherrschung, doch seine Augen glommen mit einer Härte, die keinen Widerspruch duldete.
„Sie darf nichts herausfinden“, sagte Johann schließlich. Seine Stimme war ruhig, beinahe sanft, doch jeder Ton war ein Dolchstoß. „Clara von Rheydt wird nicht ruhen, bis sie die Wahrheit kennt. Das macht sie gefährlich.“
Alexander löste den Blick vom Fenster, sein Blick wanderte kurz zu einem alten Familienporträt an der Wand – eine Erinnerung an eine Ordnung, die nie wirklich bestand. Dann wandte er sich um, die blauen Augen leicht verengt. „Sie ist eine junge Frau, die versucht, die Ehre ihrer Familie wiederherzustellen. Das ist kaum eine Bedrohung.“
Johann schnaubte leise, ein Lächeln, das eher einem Zähneblecken glich, huschte über sein Gesicht. „Naiv wie immer. Ihre Verzweiflung macht sie unberechenbar. Und unberechenbare Menschen sind gefährlich, Alexander. Nach allem, was du gesehen hast, solltest du das besser wissen.“
Alexander musterte seinen Onkel, die Kiefermuskeln angespannt. „Ich werde sie im Auge behalten. Aber ich lasse nicht zu, dass ihr etwas geschieht. Solange sie keine Beweise hat, ist sie keine Gefahr.“
Johann hob eine Braue, sein Blick bohrte sich in Alexanders. „Du täuschst dich. Sie ist nicht die Einzige, die Fragen stellt. Der Baron von Arnsberg hat bereits angedeutet, dass ihre Anwesenheit auf dem Ball … unklug war. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand sie benutzt, um gegen uns vorzugehen.“
Alexander trat näher an den Tisch, seine Haltung steif vor Spannung. „Ich werde mich darum kümmern. Aber ich warne dich, Johann – versuchst du, ihr Schaden zuzufügen, wirst du dich mir gegenübersehen.“
Johann lehnte sich zurück, seine Finger auf den Tisch gewebt. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. „So wie du meinst, mein Junge. Aber denk daran, dass die Wahrheit manchmal mehr Schaden anrichten kann als die Lüge.“
Alexander sagte nichts. Doch als er den Raum verließ, blieb das Familienporträt in seinem Blickfeld – ein Symbol für all das, was ihn in seinen Entscheidungen gefangen hielt.
***
Später saß Clara in der Bibliothek auf einer langen Sitzbank, die an den Fenstern stand. Der Anblick der herbstlichen Landschaft draußen brachte keinen Trost; sie hatte das Gefühl, dass sich die Schatten um sie verdichteten. Es war nicht nur das Gespräch, das sie belauscht hatte, sondern die wachsende Ahnung, dass sie sich auf gefährlichem Terrain befand.
Die Tür öffnete sich, und Clara blickte auf. Luise trat ein, blass und mit einem Ausdruck, der gleichermaßen besorgt wie abwesend wirkte. Ihre Finger zupften nervös an ihrer Ärmelspitze, und sie ließ den Blick durch den Raum wandern, bevor sie sich zu Clara setzte.
„Ich habe dich gesucht“, sagte sie leise. Sie schob eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und bemühte sich um ein Lächeln, das ihre Anspannung nicht verbergen konnte. „Geht es dir gut?“
Clara musterte ihre Freundin. Etwas an Luises Haltung ließ ihre Alarmglocken schrillen – eine Unruhe, die Clara nur selten an ihr gesehen hatte. „Ich … bin nicht sicher“, gab sie schließlich zu. „Es ist, als würde etwas in der Luft liegen, etwas, das ich nicht begreife.“
Luises Lächeln erstarb, und sie wandte den Blick ab. Ihre Hände falteten sich im Schoß, und Clara bemerkte, wie sie nervös ihre Finger ineinander presste. „Manchmal ist es besser, nicht nach Antworten zu suchen, Clara. Manchmal bringen sie nur Schmerz.“
Clara runzelte die Stirn. „Was meinst du damit? Weißt du etwas, Luise? Etwas, das mit meinem Vater zu tun hat?“
Luise sah sie an, und für einen Moment glaubte Clara, Tränen in ihren Augen zu sehen. Doch dann schüttelte sie den Kopf und stand hastig auf. „Ich muss gehen. Wir sprechen später.“ Sie legte Clara flüchtig eine Hand auf die Schulter, als wollte sie sie trösten, doch ihre Finger zitterten. Bevor Clara etwas erwidern konnte, war Luise bereits zur Tür hinaus.
Clara blickte ihr nach, eine beklemmende Ahnung in ihrer Brust. Luise verbarg etwas – das war zweifellos. Und Clara wusste, dass sie die Wahrheit finden musste, bevor es zu spät war.