Kapitel 2 — Vergangene Schatten
Alina Volkova
Das monotone Klackern der U-Bahn begleitete Alinas Gedanken, als sie zurück in ihre kleine Wohnung fuhr. Trotz der späten Stunde waren die Waggons überraschend voll, doch die Gesichter der anderen Passagiere verschwammen in einem grauen Schleier. Alina zog ihren Mantel enger um sich und starrte durch das beschlagene Fenster hinaus in die Dunkelheit. Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Scheiben, und die Lichter der Stadt zerflossen wie flüchtige Schatten durch den dichten Schleier. Ihre Finger verkrampften sich um den Riemen ihrer Tasche, in der die heimlich gespeicherte Kopie des Dossiers verborgen lag.
Der Name ihrer Mutter – Irina Volkova – hallte unaufhörlich in ihrem Kopf wider. Es war mehr als nur ein Datensatz in einem verschlüsselten Dokument. Es war ein Riss in der Mauer, die sie jahrelang um ihre Erinnerungen und Fragen aufgebaut hatte. Wer war Irina wirklich gewesen? Und warum war sie in „Projekt Seraphim“ verwickelt? Alina spürte, wie sich ein Knoten aus Schuld und Sehnsucht in ihrer Brust zusammenzog.
Mit einem gedämpften Zischen öffneten sich die Türen. Alina trat hinaus in die klamme Nachtluft, der Regen trommelte auf ihren Schirm, und die Straßen waren fast menschenleer. Die vereinzelten Laternen warfen schwaches, flackerndes Licht auf den nassen Asphalt. Doch ein Gefühl, beobachtet zu werden, ließ ihre Schritte schneller werden. Die Schatten der Nacht wirkten dieselben Fragen wider, die sie quälten. Sie drehte sich kurz um, suchte in den Dunkelheiten der Gassen nach einer Bewegung, einem Zeichen. Nichts. Paranoia, erinnerte sie sich selbst, doch das Gefühl ließ sie nicht los.
Sobald sie in ihrer Wohnung angekommen war, atmete sie tief durch. Der vertraute Geruch von Büchern und abgestandenem Kaffee empfing sie, während sie ihre nassen Schuhe auszog und die Tasche vorsichtig an die Wand lehnte. Die Wärme ihres Zuhauses konnte die Kälte, die sich in ihr ausgebreitet hatte, nicht vertreiben. Sie ließ sich schwer auf die Couch fallen, zog ihre Beine an den Körper und starrte in die Dunkelheit der kleinen Wohnung, nur erhellt vom schwachen Licht der Straßenlaternen, das durch die Vorhänge fiel.
Erinnerungen drängten sich auf, wie Geister, die sie lange unterdrückt hatte. Sie war plötzlich wieder zwölf Jahre alt, in der alten Wohnung ihrer Familie in einer kleinen Stadt in Russland. Ihre Mutter stand in der Küche, die Haare zu einem lockeren Zopf gebunden, während der Duft von frisch gebackenen Blinis den Raum erfüllte. Irina hatte immer gelächelt, wenn sie kochte – ein leises, zufriedenes Lächeln, das Alina damals für selbstverständlich gehalten hatte.
Doch diese Erinnerungen waren nicht ungetrübt. Sie zeigten jetzt eine Unruhe, die sie damals nicht verstanden hatte: Flüstern am Telefon, verstohlene Blicke, die Irina über die Schulter warf, wenn sie glaubte, allein zu sein. Es gab Geheimnisse, die sie als Kind nicht wahrgenommen hatte, die jetzt jedoch wie blasse Silhouetten im Nebel Gestalt annahmen. Irina war verschwunden, ohne Vorwarnung, ohne Abschied. Der Schmerz und die Verwirrung dieses Verlustes hatten sich tief in Alina eingegraben, wie eine Wunde, die nie vollständig heilen konnte.
Ihr Vater hatte nach Irinas Verschwinden geschwiegen, sich in eine harte, unnahbare Hülle zurückgezogen, die Alina weder Antworten noch Trost bot. Mit der Zeit hatte sie gelernt, die Leere zu akzeptieren. Doch nun waren all diese Gefühle wieder da, mit einer Intensität, die sie fast überwältigte.
Alina zwang sich vom Sofa hoch. Sie zündete die kleine Schreibtischlampe an, klappte ihren Laptop auf und ließ ihn hochfahren. Das blaue Licht des Bildschirms warf einen kalten Schein auf ihr Gesicht, während das Summen des Geräts als Anker in der Flut ihrer Gedanken diente. Sie öffnete die verschlüsselte Kopie des Dossiers, die sie vorsichtig aus dem Archiv extrahiert hatte, und starrte erneut auf den Namen ihrer Mutter.
„Irina Volkova,“ murmelte sie leise. Die Worte fühlten sich fremd auf ihrer Zunge an, wie ein Name aus einer anderen Welt. Ihre Finger flogen über die Tastatur, als sie begann, nach Hinweisen zu suchen. Alte Akten, Artikel, obskure Foren – alles, was mit „Projekt Seraphim“ und ihrer Mutter zu tun haben könnte. Doch die Informationen waren fragmentarisch, als hätte jemand absichtlich Spuren verwischt. Immer wieder stieß sie auf verschlüsselte Daten und leere Seiten, die wie stumme Zeugen eines verdrängten Kapitels ihres Lebens wirkten.
Ein Artikel stach jedoch heraus: „Geheime Experimente in post-sowjetischen Staaten – Mythos oder Realität?“ Unter der groben Überschrift fand sie vage Details über ein Programm, das angeblich während des Zerfalls der Sowjetunion ins Leben gerufen worden war. Es sollte Personen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten rekrutieren und trainieren, hieß es. Frauen seien bevorzugt worden, da sie leichter unterschätzt würden. Alinas Herz begann schneller zu schlagen. Ein unscharfes Schwarz-Weiß-Bild zeigte eine Gruppe von Frauen, die sie ansahen – unpersönlich, fast wie Schatten. Eine von ihnen hatte Gesichtszüge, die an Irina erinnerten. Es war keine Gewissheit, doch die Möglichkeit ließ sie frösteln.
Die Stunden vergingen, während sie sich immer tiefer in das Netz aus Informationen und Vermutungen verstrickte. Die Welt um sie herum verschwamm, nur der Bildschirm vor ihr blieb klar. Irgendwann, in den frühen Morgenstunden, zwang sie sich, eine Pause einzulegen. Sie lehnte sich zurück und rieb sich die müden Augen. Trotz aller Bemühungen war sie keinen Schritt näher an der Wahrheit. Doch eines war sicher – Irina hatte ein Leben geführt, von dem Alina nichts gewusst hatte.
Sie stand auf, ging zu einem Schrank und zog eine kleine, abgenutzte Schachtel hervor. Darin bewahrte sie die wenigen Erinnerungsstücke auf, die sie von ihrer Mutter behalten hatte: ein Foto, auf dem Irina lachend in die Kamera blickte, ein silbernes Medaillon, das sie immer getragen hatte, und ein handgeschriebener Brief, der Jahre vor ihrem Verschwinden verfasst worden war. Alina öffnete das Medaillon, betrachtete das kleine Foto darin – ein Bild von ihr selbst als Kind, zusammen mit Irina. Ihre Mutter sah jung aus, voller Leben, und Alina spürte einen scharfen Stich in ihrer Brust.
Ihr Blick fiel auf die Innenseite des Medaillons. Ein kaum sichtbares, eingeritztes Symbol, das aus einer Reihe miteinander verbundener Kreise bestand, fiel ihr ins Auge. Sie konnte sich nicht erinnern, es jemals zuvor bemerkt zu haben. Der Brief enthielt keine klaren Antworten, nur alltägliche Worte einer Mutter an ihre Tochter. Doch Alina ertappte sich dabei, die Zeilen mit neuen Augen zu lesen, suchte nach versteckten Bedeutungen, die sie früher übersehen haben könnte.
Die Sonne begann zu dämmern, ein fahles Licht drang durch die Fenster. Alina fühlte sich, als hätte sie die ganze Nacht gegen eine unsichtbare Wand gekämpft, ohne zu wissen, was sich auf der anderen Seite befand. Doch eines wusste sie sicher: Sie konnte nicht länger tatenlos bleiben.
Sie steckte das Medaillon und den Brief in ihre Tasche, schloss den Laptop und holte tief Luft. Die Schatten der Vergangenheit mochten sie umgeben, doch sie war entschlossen, Licht in die Dunkelheit zu bringen. Wenn ihre Mutter wirklich Teil von „Projekt Seraphim“ gewesen war, würde Alina die Wahrheit aufdecken – komme, was wolle.