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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Flüstern im Wintergarten


Adelina von Rothenburg

Der Wintergarten des Rothenburg-Anwesens schien unter der Dämmerung ein anderes Gesicht anzunehmen. Während des Tages war er ein Ort der Ruhe, erfüllt von Licht, das durch die gläsernen Wände fiel und die üppigen Pflanzen in warmen Goldtönen badete. Doch jetzt, im Zwielicht, wirkte dieser Ort wie eine Kulisse aus einem fremdartigen Traum. Die hohen Palmen, die Orchideen in ihren extravaganten Farben und die Ranken, die sich an den Eisengestellen emporwanden, schienen wie Schattenwesen, die sich lautlos bewegten, sobald sie unbeobachtet waren. Die dunklen Scheiben des Glashauses spiegelten vage das Innere wider und verstärkten das Gefühl, dass Adelina hier nicht allein war.

Ein kalter Windstoß, der durch einen leicht geöffneten Flügel der Glaskonstruktion hereindrang, ließ Adelina frösteln. Sie zog den Mantel enger um ihre Schultern und spürte die Feuchtigkeit der Luft wie einen Schleier auf ihrer Haut. Die Geräusche um sie herum – das Rascheln der Pflanzenblätter, das leise Tropfen des Wassers im kunstvollen Marmorspringbrunnen und das Knarren des Bodens unter ihren Schritten – schienen immer lauter zu werden. Jeder Laut verstärkte das Gefühl, beobachtet zu werden.

Adelina war hierhergekommen, um ihren Gedanken nachzugehen – oder vielleicht, um ihnen zu entfliehen. Die Ereignisse des Tages hatten ihren Geist aufgewühlt: das rätselhafte Gedicht, die warnenden Worte des Barons und schließlich das Gespräch, das sie belauscht hatte. Alles fühlte sich wie ein unsichtbares Netz an, das sich enger und unnachgiebiger um sie zog. Der Wintergarten war der einzige Ort, an dem sie sich für einen Moment außerhalb der beengenden Wände des Hauses fühlen konnte, auch wenn er selbst etwas Bedrückendes an sich hatte.

Ihr Blick glitt suchend umher, bis ihre Aufmerksamkeit auf einen kleinen Tisch in der hinteren Ecke des Wintergartens fiel. Die exotischen Pflanzen standen hier dichter, und die Luft war schwer und feucht. Auf dem Tisch lag ein Bündel Papiere, ordentlich aufeinandergelegt. Ein dunkler Umschlag ragte hervor, und Adelina hatte das untrügliche Gefühl, dass dieses Objekt nicht zufällig dort lag. Es war, als würde es sie rufen.

Sie zögerte. Ihr Herz schlug schneller, während ihre graublauen Augen die Umgebung absuchten. Niemand schien sich im Wintergarten aufzuhalten, doch die Schatten der Pflanzen warfen seltsame Formen auf die Wände, die ihre Nervosität verstärkten. Mit leisen, vorsichtigen Schritten näherte sie sich dem Tisch. Jeder Kieselstein unter ihren Schuhen schien eine Gefahr der Entdeckung darzustellen.

Vorsichtig griff Adelina nach dem Umschlag. Das Papier fühlte sich kühl an, und ein schwacher Geruch von Tabak hing daran. Sie drehte das Bündel um, suchte nach einem Hinweis auf den Absender oder Empfänger, doch kein Name war darauf vermerkt. Ihre Instinkte rieten ihr, vorsichtig zu sein, doch ihr Herz pochte vor Aufregung. Sollte sie den Umschlag öffnen? War dies der Schlüssel zu den Fragen, die sie seit Tagen quälten?

Gerade als sie das Siegel zu lösen begann, hörte sie ein Geräusch hinter sich – das leise, unmissverständliche Schleifen von Schritten auf dem Kies. Adelina erstarrte. Ihre Finger umklammerten den Umschlag, und sie drehte sich langsam um.

Der Baron von Rothenburg stand im Eingang des Wintergartens, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sein Gesicht war im Halbdunkel kaum zu erkennen, doch die Umrisse seiner Gestalt waren unverkennbar. Seine Stimme durchbrach die angespannte Stille, tief und ruhig, doch mit einem schneidenden Unterton, der Adelina das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Was tust du hier, Adelina? Es ist ungewöhnlich, dich um diese Stunde im Wintergarten anzutreffen.“

Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Gedanken rasten: Hatte er sie beobachtet? Wusste er, was sie gefunden hatte? Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. „Ich… ich wollte nur frische Luft schnappen“, antwortete sie schließlich, bemüht, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. Sie hielt den Umschlag hinter ihrem Rücken verborgen und hoffte, dass die Schatten der Pflanzen sie decken würden.

Der Baron trat näher. Sein Schritt war gemessen, beinahe lautlos, und sein Blick schien alles zu durchdringen. „Frische Luft“, wiederholte er langsam, als wolle er die Worte genau abwägen. „Es gibt viele Orte, um Luft zu schnappen. Warum wählst du einen Ort wie diesen – so fern von den gut beleuchteten Hallen des Hauses?“

Adelina spürte, wie ihre Hände feucht wurden, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. „Die Gärten draußen sind zu kalt geworden“, sagte sie, ihre Stimme nun fester. Sie hob das Kinn ein wenig, um den Anschein von Selbstsicherheit zu wahren. „Hier ist es… angenehmer.“

Der Baron hielt inne und musterte sie mit einer Intensität, die ihr kaum erträglich schien. Dann ließ er seinen Blick über die Pflanzen schweifen, als suche er nach etwas. „Manchmal ist es gut, allein zu sein“, sagte er schließlich, fast nachdenklich. „Doch es gibt Orte, die mehr verbergen, als sie offenbaren.“

Seine Worte ließen Adelinas Magen sich zusammenziehen. War dies eine Warnung? Eine Drohung? Oder wusste er tatsächlich, was sie in der Hand hielt? Sie wagte nicht, länger in seinen Augen zu verweilen, und sah zu Boden.

„Nun gut“, sagte er, nachdem ein Moment der unangenehmen Stille vergangen war. Seine Stimme hatte wieder den geschäftsmäßigen Ton angenommen, der sie immer an ein Urteil erinnerte. „Ich werde dich nicht länger stören. Doch, Adelina…“ Er hielt inne, und sie blickte wieder auf, unfähig, die Bedeutung dieses Moments zu ignorieren. „Sei vorsichtig, wohin dich deine Schritte führen. Nicht jeder Schatten ist harmlos.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war. Adelina blieb zurück, das Bündel Papiere noch immer in ihrer Hand. Ihr Herz klopfte heftig, und sie spürte, wie die Anspannung in ihren Schultern nachließ, als seine Präsenz nicht mehr zu spüren war.

Doch die Erleichterung währte nur kurz. Der Umschlag in ihrer Hand war schwer wie Blei. Sie wusste, dass sie ihn nicht hier öffnen konnte. Mit einem letzten Blick auf die Schatten, die sich um die Pflanzen rankten, schob sie den Umschlag unter ihren Mantel und verließ den Wintergarten so schnell, wie sie es wagte.

Zurück in ihrem Zimmer breitete sich die Dunkelheit der Nacht vollständig über das Anwesen aus. Adelina setzte sich an ihren Schreibtisch, zündete eine einzelne Kerze an und betrachtete den Umschlag vor sich. Ihre Hände zitterten, als sie schließlich das Siegel brach und die Papiere hervorholte.

Die Schrift darauf war sorgfältig, beinahe pedantisch, und die Worte schienen mit Absicht gewählt. Es waren keine Briefe, wie sie zunächst vermutet hatte, sondern Berichte – detaillierte Aufzeichnungen über Treffen, Namen und Orte. Viele dieser Namen sagten ihr nichts, doch auf einer der Seiten stach ein Name hervor, der ihr Herz für einen Moment stillstehen ließ: Walden.

Die Zeit schien stillzustehen, während sie die Dokumente durchflog. Fragmente eines größeren, dunkleren Bildes offenbarten sich in jeder Zeile. Die glänzende Fassade der Gesellschaft, die sie umgab, schien mit jedem Wort mehr zu bröckeln. Und inmitten all dessen war sie – ein Spielball in einem gefährlichen Netz von Intrigen.

Doch eines wusste sie sicher: Der Wintergarten, der für einen Moment Zuflucht versprochen hatte, hatte sie auf einen Pfad geführt, von dem es kein Zurück gab.