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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Kontrolle ist eine Illusion


Ava

Ava schleppte sich die knarrenden Stufen zu ihrer Wohnung im dritten Stock hinauf, die Schmerzen in ihren Beinen ein dumpfes Pochen nach zwölf Stunden auf den Beinen bei Night Elegance. Die grellen Neonlichter der Agentur und die aufgesetzten Lächeln hallten noch in ihrem Kopf wider, ein unablässiges Summen aus Verzweiflung und billigem Parfüm. Sie kramte nach ihren Schlüsseln, die Tür quietschte beim Öffnen und gab den vertrauten Anblick ihres winzigen Apartments preis – schmutziges Geschirr in der Spüle, ein durchgesessenes Sofa und ein Stapel Rechnungen, der sie vom Küchentresen aus anstarrte wie eine stumme Anklage.

Sie ließ ihre Tasche neben der Tür fallen und kickte mit einem tiefen Seufzer ihre abgenutzten Absätze von den Füßen. Schlurfend ging sie zum Tresen und wühlte durch den üblichen Kram – glänzende Broschüren, die schnelles Geld für „exklusive Gelegenheiten“ versprachen, eine Mahnung für die Stromrechnung, einen Flyer für ein Diner, das sie sich nicht leisten konnte. Doch dann ertastete sie etwas Schwereres, einen dicken Umschlag ohne Briefmarke, ohne Absender, nur ihr Name in scharfer, eleganter Tinte quer über die Vorderseite geschrieben. Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie ihn aufriss und eine einzelne Karte herauszog, geprägt mit goldener Filigran auf schwerem schwarzem Karton. Darauf stand: *Sie sind herzlich zu einer privaten Elite-Veranstaltung im Delacroix Retreat Country Hotel eingeladen. Die Teilnahme an unserem exklusiven Programm bietet großzügige Vergütung. Diskretion garantiert. Details bei Ankunft.*

Ihr Magen zog sich zusammen. Keine Einzelheiten, kein Kontakt, nur ein Datum und eine Uhrzeit – in drei Tagen – sowie ein vages Versprechen von Geld. Sie drehte die Karte um und entdeckte einen kleineren Zettel, der darin steckte, bedruckt mit ihrem vollständigen Namen, ihrer Adresse, sogar ihrer Passnummer. Ihr Atem stockte, ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Das war kein zufälliger Werbebrief. Jemand kannte sie – bis hin zu den Daten, die sie nur der Agentur anvertraut hatte.

„Das muss ein Irrtum sein“, murmelte sie und warf die Karte auf den Tresen. Doch ihr Blick wanderte immer wieder zurück, die goldenen Buchstaben schimmerten im fahlen Licht der Küchenlampe. Ein Fehler kam nicht mit persönlichen Daten. Angst nagte an ihr, flüsterte von Betrug oder Schlimmerem, doch das Gewicht der unbezahlten Rechnungen lastete schwerer. Die Miete war überfällig, und ihr Konto war leer wie eine Geisterstadt. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, ihre Finger schwebten über der Karte. Neugier brannte in ihr, scharf und unüberlegt, und die Verlockung einer „großzügigen Vergütung“ gab den Ausschlag. Sie griff erneut nach der Karte, ihr Puls beschleunigte sich.

Bei Tagesanbruch rollte ein schwarzer Wagen vor den Bordstein vor Avas marodem Wohnblock, die getönten Scheiben verschluckten das blasse Morgenlicht. Sie zögerte, die geprägte Karte in ihrer Hand, das Gewicht ihrer Entscheidung drückte gegen ihre Brust. Mit einem flachen Atemzug glitt sie auf den Rücksitz, das Leder kühl und unnachgiebig unter ihr. Der Fahrer, ein Schatten in einem makellosen Anzug, blickte nicht zurück, sprach kein Wort. Der Motor schnurrte leise, und die Stadt verschwamm draußen – graue Straßen wichen kurvigen Wegen, die sie nicht kannte, die Skyline schrumpfte im Rückspiegel, bis sie ganz verschwand.

Morgennebel lag schwer über dem Boden, als sie die Stadt hinter sich ließen, schlang sich um kahle Bäume und verhüllte den Horizont. Durch den Dunst tauchte schließlich die Silhouette des Delacroix Retreat auf – ein wuchtiges Herrenhaus aus altem Stein, dessen Türme den Nebel durchstachen wie gezackte Zähne. Dichte Gärten flankierten das Anwesen, ihre gepflegten Hecken und blühenden Rosen unheimlich makellos, als wären sie einem Gemälde entsprungen. An den hohen Eisengittern standen Wachen, ihre Gesichter ausdruckslos, die Hände frei von Waffen. Kein Nicken, kein Wort, nur eine stille Geste, weiterzugehen. Alles wirkte poliert bis zur sterilen Perfektion, eine Schönheit so makellos, dass Ava ein Kribbeln auf der Haut spürte.

Der Wagen hielt vor dem imposanten Eingang, und eine Frau in einem maßgeschneiderten grauen Kleid trat vor, ihr Lächeln schmal und ohne Wärme. „Willkommen“, sagte sie, ihre Stimme glatt wie Glas. „Wir haben Sie erwartet.“

Ava umklammerte ihre Tasche fester und stieg auf den knirschenden Kies. „Ich muss nur wissen –“

„Ihre Sachen werden verwahrt“, unterbrach die Frau und streckte eine Hand nach Avas Dingen aus. „Einschließlich Ihres Handys. Es wird für die Dauer Ihres Aufenthalts sicher aufbewahrt.“

Ein Hauch von Unbehagen kroch in Avas Magen, doch sie reichte ihre Tasche ab, das Gewicht ihres Handys glitt ihr aus den Händen. Die Frau reichte ihr ein Glas Weißwein, die Flüssigkeit fing das matte Licht wie flüssiger Kristall. „Von nun an sind Sie Schwan. Schwimmen Sie einfach.“

Avas Finger schlossen sich fester um den Stiel des Glases, die kryptischen Worte hingen schwer in der Luft. Sie hob das Glas, der kühle Rand streifte ihre Lippen, und sie nahm einen Schluck. Der scharfe Geschmack des Weins erdet sie für einen flüchtigen Moment.

Ava folgte der Frau in Grau durch ein Labyrinth kerzenbeleuchteter Flure, das leise Klacken ihrer geliehenen Absätze hallte vom polierten Marmor wider. Die Luft trug einen schwachen Duft von Jasmin und Wachs, schwer und desorientierend, während sie eine weitläufige Treppe hinaufstiegen. Schatten tanzten an den Wänden, geworfen von flackernden Flammen in kunstvollen Wandlampen. Keine Stimmen, keine Schritte außer ihren eigenen – nur die geisterhaften Klänge klassischer Musik, die sich durch die Stille webten.

Sie hielten vor einer geschnitzten Holztür, deren Oberfläche mit filigranen Ranken verziert war. Die Frau stieß sie auf und enthüllte einen Raum, der Ava den Atem raubte. Hohe Decken wölbten sich darüber, bemalt mit verblassten Fresken himmlischer Wesen, deren Augen jeder ihrer Bewegungen zu folgen schienen. Die Wände schimmerten mit Glasscheiben, doch sie spiegelten nichts wider – kein Gesicht, keine Gestalt, nur ein stumpfer, leerer Glanz. Spiegellose Spiegel, als wären sie dazu gemacht, jeden, der davorstand, auszulöschen. Ein massiver Kleiderschrank dominierte eine Ecke, seine Türen standen offen und ließen eine Kaskade von Kleidern aus Seide und Satin hervorquellen, jedes zarter als das andere, deren Farben tief und hypnotisch leuchteten.

„Bereiten Sie sich vor“, wies die Frau an, ihr Ton knapp, während sie Ava eine gefiederte Maske in die Hände legte. Ihre Ränder waren weich, schwarz wie Mitternacht, mit filigranem silbernem Faden, der das Kerzenlicht einfing. Dann war sie verschwunden, die Tür schloss sich mit einer Endgültigkeit, die Avas Brust zusammenschnürte.

Hinter der angelehnten Tür huschten Gestalten durch den Korridor – Frauen in fließenden Roben, deren Bewegungen zugleich geschmeidig und mechanisch wirkten, wie Marionetten an unsichtbaren Fäden. Ihre Gesichter, halb verborgen hinter Masken aus Spitze und Samt, blieben ausdruckslos. Eine von ihnen traf für einen winzigen Augenblick Avas Blick, ihre Augen scharf unter einer goldenen Maske, bevor sie den Kopf senkte und weiter glitt. Eine andere, gehüllt in smaragdgrüne Seide, schenkte ihr ein schwaches, kaum wahrnehmbares Lächeln, bevor sie in einen schattigen Seitengang verschwand. Kein Wort wurde gewechselt, doch die Luft knisterte vor unausgesprochenen Regeln, eine Inszenierung, in der jeder seinen vorgegebenen Schritt kannte, ohne das Ende des Spiels zu ahnen.

Avas Finger schlossen sich fester um die Maske, ihr Puls raste unter der Haut. Zum ersten Mal zog ein kalter Hauch der Angst durch sie, prickelte in ihrem Nacken. Sie stand allein in dem riesigen Raum, das Gewicht des Unbekannten lastete schwer auf ihr, die Maske ein stummer Befehl in ihren zitternden Händen.

Ava zog die federbesetzte Maske über ihr Gesicht, der kühle Stoff streifte ihre Haut, während sie sie zurechtrückte, ihr Atem flach unter dem ungewohnten Gewicht. Sie verließ den Raum, ihr geliehenes Seidenkleid raschelte leise über den Marmorboden, und folgte dem gedämpften Summen von Stimmen durch den kerzenbeleuchteten Korridor. Der Flur mündete in einen gewaltigen Saal, dessen gewölbte Decke mit wirbelnden Sternbildern bemalt war, Goldblatt schimmerte im flackernden Licht eines mächtigen Kronleuchters. Samtvorhänge umrahmten hohe Fenster, doch hinter dem Glas lag nur Dunkelheit, als hätte die Welt draußen aufgehört zu existieren.

Dutzende Frauen standen verteilt im Raum, ihre Masken eine Sammlung aus Federn, Spitze und schimmerndem Metall, ihre Gewänder wie flüssige Schatten auf dem polierten Boden. Sie bewegten sich mit einer seltsamen, synchronisierten Eleganz, die Köpfe leicht geneigt, die Hände gefaltet oder locker an den Seiten ruhend. Kein Geplauder, kein Lachen – nur das sanfte Rascheln von Stoff und der ferne Klang einer Geige. Es war kein Treffen, keine Besprechung. Es fühlte sich wie ein Ritual an, eine stille Gemeinschaft, in der jede Geste eine verborgene Bedeutung trug.

Eine Frau in einem fließenden weißen Gewand trat vor, ihre Maske eine scharfe, elfenbeinfarbene Sichel, die alles bis auf ihre durchdringenden grauen Augen verbarg. Ihre Präsenz beherrschte den Raum, die Luft schien dichter zu werden, als sie eine zarte Hand hob. „Willkommen, Schwäne“, schnurrte sie, ihre Stimme eine samtene, scharfe Klinge. „Heute Abend widmen wir uns der Ästhetik des Gehorsams. Dies ist kein bloßes Zusammenkommen – es ist eine Darbietung von Anmut. Fragen sind nicht eure Aufgabe; sie stören die Harmonie. Eigeninitiative zerstört den Tanz, und dafür gibt es Konsequenzen. Ein Lächeln jedoch ist eure Zustimmung, ein Geschenk an den Rhythmus, den wir gemeinsam erschaffen. Schweigen ist euer Respekt, der Faden, der uns verbindet.“

Avas Brust zog sich zusammen, die unsichtbaren Gitter dieses goldenen Käfigs rückten mit jedem Wort näher. Der Ton der Frau verpackte alles als Spiel, eine elegante Scharade, doch die Regeln fühlten sich wie Ketten unter der poetischen Hülle an. Sie verlagerte ihr Gewicht leicht, der Drang zu sprechen brannte in ihrer Kehle, bis sie es nicht mehr zurückhalten konnte. „Was geschieht als Nächstes?“

Die Frau in Weiß wandte sich um, ihr Blick schnitt durch das schwache Licht. Ihre Lippen bogen sich, weich, aber unnachgiebig. „Was immer du wählst, Schwan. Doch sei vorsichtig – jeder sieht deine Entscheidung.“

Auf der anderen Seite der hohen Fenster, jenseits des trügerischen Glanzes des Glases, das mehr verbarg als offenbarte, pulsierte ein schattiger Raum mit stiller Kontrolle. Bildschirme säumten die Wände, ihr kaltes blaues Licht warf gezackte Schatten durch den Raum, jeder zeigte Live-Übertragungen aus dem Saal darunter. Raphaël Von Blake stand in der Mitte, eine Silhouette aus Dunkelheit, sein maßgeschneiderter Anzug verschmolz mit dem Dämmerlicht. Sein Blick war auf den zentralen Monitor gerichtet, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die einzige Bewegung eine subtile Neigung seines Kopfes, während er die Gestalten beobachtete, die über den Bildschirm glitten.

Er hob eine Hand in einer scharfen, gezielten Geste, und eine der Kameras schaltete sich ab, ihr rotes Licht erlosch wie eine sterbende Glut. Die Übertragung von Ava – Schwan, wie sie sie nannten – fror für einen Moment ein, bevor sie auf einem anderen Bildschirm wieder aufgenommen wurde. Seine Augen verengten sich, verfolgten, wie ihre Finger die federbesetzte Maske umklammerten, das leichte Zittern in ihrer Haltung, als sie sie zurechtrückte. Ihr Kopf wandte sich fast instinktiv zur verborgenen Linse, als könnte sie das Gewicht des Beobachtetwerdens spüren. Raphaëls Gesicht blieb eine steinerne Maske, verriet nichts, doch sein Blick schärfte sich, durchdrang das schwache Licht mit raubtierhafter Konzentration.

„Wer ist sie?“ Seine Stimme durchschnitt die Stille, tief und von Kälte durchzogen.

Ein Assistent, ein drahtiger Mann in einem makellosen schwarzen Hemd, stand nahe einem Bedienpult, seine Finger schwebten über einem Tablet. Er blickte auf, rückte seine Brille mit einer schnellen, nervösen Geste zurecht. „Sie steht auf der genehmigten Liste, Herr. Durch die üblichen Kanäle freigegeben. Name ist unter Schwan, gemäß Protokoll.“

Raphaëls Kiefer spannte sich, eine schwache Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. Er trat näher an den Bildschirm, das Leuchten beleuchtete die harten Linien seines Gesichts. „Ich habe die Liste gesehen. Jeden Namen, jedes Detail. Sie war nicht darauf.“

Der Assistent zögerte, seine Hand hielt mitten in der Luft über dem Tablet inne. „Ich werde die Unterlagen nochmals prüfen, Herr. Es muss ein Fehler in der Dokumentation sein. Sie kam mit den anderen an, wurde am Haupttor abgefertigt.“

Raphaël antwortete nicht, sein Blick klebte am Bildschirm, an der Art, wie Avas Haltung sich unter dem Gewicht des unsichtbaren Blicks versteifte. Sein Schweigen war schwerer als Worte, ein Sturm braute sich unter der Oberfläche zusammen.

Ava stand allein im dämmrigen Flur des Delacroix-Retreats, der kühle Marmor unter ihren Füßen jagte ihr einen Schauer den Rücken hinauf. Ihr weißes Kleid schmiegte sich an ihren Körper, der Stoff flüsterte bei jedem flachen Atemzug. In ihren zitternden Händen fühlte sich die federbesetzte Maske schwerer an, als sie sollte, ihre silbernen Fäden glitzerten schwach im Kerzenlicht. Vor ihr ragte eine gewaltige Tür auf, ihr dunkles Holz mit kunstvollen Schnitzereien von Flügeln verziert, deren Spitzen sich nach innen bogen, als bewachten sie, was dahinter lag. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, ein hektischer Rhythmus, den sie nicht beruhigen konnte, doch ihre Füße blieben wie angewurzelt. Kein Zurück, nicht jetzt.

Hinter der Tür drang ein schwaches Lachen hervor – zart, feminin, fast melodisch, vermischt mit dem leisen Rascheln von Stoff. Es war nicht direkt einladend, doch es zog sie unwiderstehlich an, wie ein Sirenengesang, durchdrungen von etwas Unnennbarem. Ihre Finger schlossen sich fester um die Maske, deren Kanten sich in ihre Haut gruben. Langsam, fast zögerlich, hob sie sie an ihr Gesicht. Der kühle Stoff streifte ihre Wangen, als sie die Maske zurechtrückte. Durch die Augenschlitze verengte sich ihr Blickfeld, und die Welt schärfte sich zu einem eingerahmten, surrealen Schleier.

Eine Stimme flüsterte in ihrem Kopf, scharf und ungebeten: „Du kannst immer noch umkehren.“ Sie durchschnitt den Nebel ihrer Gedanken, ein Hauch von Zweifel, der ihre Entschlossenheit durchbohrte. Ihr Atem stockte, ihre Brust zog sich zusammen, doch ihre Beine verweigerten den Gehorsam. Sie fühlten sich an wie aus Stein, verankert von einer Kraft, die sie nicht begriff – Neugier, Verzweiflung oder etwas Finstereres. Sie schluckte schwer, die Maske dämpfte das Geräusch ihres eigenen unregelmäßigen Ausatmens.

Dann, mit einer Entschlossenheit, die sie nur halb fühlte, trat Ava einen Schritt vor. Der Boden knarrte unter ihr, ein leises Ächzen hallte durch den stillen Korridor. Als ob sie auf ihre Bewegung reagierte, erzitterte die schwere Tür, ihre geschnitzten Flügel schienen für einen winzigen Moment zu beben. Langsam, mit einem tiefen, resonanten Knarren, begann sie sich von selbst zu öffnen, der Spalt weitete sich wie ein hungriges Maul. Ein Schwall warmen, goldenen Lichts ergoss sich heraus und tauchte sie in seinen Glanz, während das Lachen jenseits der Tür klarer, schärfer wurde und sich wie ein Versprechen – oder eine Warnung – durch die Luft zog.