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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Namen Gelöscht


Ava / Raphaël

Ava betrat den Karmesinroten Raum, die schwere Tür schloss sich hinter ihr mit einem dumpfen, gedämpften Schlag. Eine Welle warmen, karmesinroten Lichts umhüllte sie und tauchte ihre Haut in verführerische Schattierungen. Die Luft war schwer vom Duft nach Bernstein und Moschus, der sie wie ein samtiger Handschuh einhüllte. Gewaltige Vorhänge in tiefem Scharlachrot verhüllten die Wände und schluckten jedes Geräusch, während eine verspiegelte Decke darüber zersplitterte Reflexionen der Dekadenz darunter zurückwarf. Ihr eigenes maskiertes Gesicht blickte aus der Decke auf sie herab, eine Fremde in schwarzer Spitze, ihr Atem stockte angesichts der surrealen Verzerrung der Realität.

Ein langsamer, hypnotischer Puls von Saiten und sanften Schlaginstrumenten durchzog den Raum und lenkte die Körper in einen trägen Tanz. Männer und Frauen, ihre Gesichter hinter kunstvollen Masken aus Gold und Obsidian verborgen, bewegten sich mit bedachter Eleganz. Manche wiegten sich in Paaren, Hände streichelten nackte Schultern oder glitten langsam über Rücken. Andere ruhten auf plüschigen Chaiselongues, nippten an bernsteinfarbener Flüssigkeit aus Kristallgläsern, ihr Lachen ein leises Summen unter der Musik. Frauen in hauchdünner Seide und zarter Spitze schwebten durch die Menge, ihre Haut glühte im roten Dunst, schamlos und frei. Niemand zuckte zurück. Niemand wich aus. Es war ein Spiel, ein sorgfältig inszeniertes Ritual, und jede Berührung, jeder Blick schien von unsichtbaren Regeln geprägt.

Avas Puls pochte in ihrer Kehle, als sie vorsichtig voranschritt, ihre Absätze klickten auf dem polierten Obsidianboden. Ihr Spiegelbild folgte ihr von unten, ein Schattenzwilling, der jeden unsicheren Schritt nachahmte. Sie gehörte hier nicht hin, noch nicht, nicht ohne das unsichtbare Regelwerk, das alle anderen zu beherrschen schienen. Ein Mann in einer Maske aus Rabenfedern neigte den Kopf, als sie vorbeiging, seine behandschuhte Hand streifte ihren Arm mit einem Hauch von Leder.

„Frisches Blut?“, fragte er, seine Stimme wand sich wie Rauch, tief und forschend.

Sie zwang sich zu einem schiefen Lächeln, das Kinn erhoben. „Das wirst du schon sehen.“

Sein leises Lachen folgte ihr, während sie tiefer in die Menge eintauchte, sich zwischen Körpern hindurchschlängelte, die ihr zu nahe kamen. Finger streiften ihre Taille, als wäre sie bereits Teil des Tanzes. Ihre Haut prickelte, nicht vor Angst, sondern unter dem Gewicht unsichtbarer Blicke. Irgendwo in diesem Labyrinth der Begierde verbargen sich Antworten über ihre Schwester, versteckt hinter Masken und Geflüster. Sie musste einfach mitspielen – ohne über die unsichtbaren Grenzen zu stolpern.

* * *

Ava hatte kaum ein paar weitere Schritte im Karmesinroten Raum gemacht, als ein Mann in einer goldenen Maske an ihrer Seite erschien. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie die eines Raubtiers, jeder Schritt ein stiller Befehl, jede Kopfneigung eine kalkulierte Geste. Ohne ein Wort streckte er seine Hand aus, die Finger in schwarzer Seide, die Handfläche nach oben – ein Angebot, durchdrungen von Herausforderung. Die Geste war keine Frage. Es war eine Aufforderung.

Ihr Magen zog sich zusammen, nicht vor Schreck, sondern mit einer scharfen, trotzigen Kante. Etwas an seiner zur Schau gestellten Ruhe wirkte zu glatt, zu inszeniert, als hätte er ihre Antwort bereits vorhergesehen. Sie mochte es nicht, eine Spielfigur zu sein, bevor sie das Spielfeld überhaupt verstanden hatte. Als seine behandschuhten Finger ihren Arm streiften, versteifte sich ihr Körper, nicht aus Furcht, sondern aus Empörung über seine Dreistigkeit. Durch die Schlitze ihrer Maske fixierte sie seinen Blick, ihr Kiefer hob sich gerade genug, um zu zeigen, dass sie sich nicht beugen würde. Noch nicht.

Bevor der stille Machtkampf in etwas Schärferes ausarten konnte, tauchte eine Gestalt aus dem karmesinroten Dunst auf – eine Frau, imposant, gehüllt in kaskadenartigen schwarzen Tüll, der wie ein Trauerschleier schimmerte. Sie bewegte sich mit geisterhafter Präzision, glitt zwischen Ava und den Mann, ihre Hand drückte mit besitzergreifendem Gewicht gegen seine Brust. „Lass sie noch ein wenig zusehen“, schnurrte sie, ihr Ton glatt wie polierter Stein, voll verborgener Absicht. „Die reifste Frucht fällt nicht zu früh.“

Avas Atem stockte, nicht wegen der Worte, sondern wegen der Aura von Kontrolle, die die Frau ausstrahlte. Sie war nicht nur Teil des Spiels – sie beherrschte es. Der Mann gab ohne ein Zeichen des Protests nach, ließ sich wegführen, seine goldene Maske glitzerte, als er sich in die Menge zurückzog, ein Tier an einer unsichtbaren Leine.

Erst jetzt spürte Ava das Gewicht eines weiteren Blicks, nicht nah, aber durchdringend aus der Ferne. Ihr Blick wanderte nach oben, gezogen zur schattigen Galerie, die den Raum überblickte. Dort stand eine Gestalt, regungslos wie aus Stein gemeißelt, maskiert wie die anderen, doch mit einer Präsenz, die wie eine unsichtbare Kraft nach unten drückte. Nicht hungrig, nicht suchend. Beurteilend. Abschätzend. Seine Silhouette verschmolz nicht mit der Dekadenz unten – sie thronte darüber, ein Verstand, der die Teile eines Puzzles sichtete, und Ava war irgendwie zu einer unerwarteten Variable geworden.

* * *

Raphaël verharrte auf dem halbdunklen Balkon, die Halbmaske schützte seine Züge, kein Abzeichen oder Wappen verriet seinen Namen. Er hätte heute Nacht nicht hier sein sollen. Die Rituale des Karmesinroten Raums waren seiner derzeitigen Zurückhaltung unwürdig, ein Spiel, das er längst gemeistert und hinter sich gelassen hatte. Doch ihre Anwesenheit – unerwartet, ungebeten – hatte ihn aus seiner sorgfältig errichteten Distanz gerissen. Unten bewegte sich Ava durch das Meer aus Seide und Schatten, eine Gestalt, die fehl am Platz war und sich dennoch weigerte, sich zu beugen. Sein Griff um das kalte Eisen des Geländers verstärkte sich, das Metall biss in seine Handfläche, während er jeden ihrer Schritte verfolgte.

Sie duckte sich nicht. Sie flatterte nicht und posierte nicht wie die anderen, deren Körper sich in geübte Unterwerfung fügten. Nein, Ava stand mit einem Rückgrat aus Stahl da, ihr Kopf neigte sich, als würde sie die verborgenen Strömungen des Raums analysieren, ihr Blick durchdrang den Dunst der Verführung. Eine Jägerin in einer Höhle voller Beute oder vielleicht Beute mit scharfen Zähnen. Raphaëls Puls beschleunigte sich, nicht durch den vertrauten Nervenkitzel der Kontrolle, sondern durch etwas Roheres, weniger Berechenbares. Er sah, wie ihre Finger an ihrer Seite zuckten, nicht aus Nervosität, sondern aus Kalkül. Sie las den Raum, die Menschen, die unausgesprochenen Regeln – und sie ließ sich nicht von der Illusion täuschen.

Jahrelang waren die Mädchen in diesem Raum für ihn nichts als Rollen gewesen, bloße Figuren in einem sorgfältig inszenierten Spiel. Gefäße für Begierde, für Macht, für flüchtige Zerstreuung. Doch Ava… sie war keine Rolle. Sie war eine Entscheidung. Eine scharfe Kante in einer Welt voller sanfter Rundungen, ein Fragezeichen dort, wo er bisher nur Antworten niedergeschrieben hatte. Seine Brust zog sich bei dieser Erkenntnis zusammen, ein warnendes Pochen vibrierte unter seinen Rippen. Das war nicht sicher. Nicht für ihn. Nicht für die eisernen Mauern, die er um das wenige errichtet hatte, was von seiner Fähigkeit zu fühlen noch übrig war. Etwas – jemanden – jenseits des Drehbuchs zu begehren, bedeutete, Chaos einzuladen, das Risiko einer Zerstörung einzugehen, die er sich geschworen hatte, niemals wieder zu erleben.

Doch er konnte den Blick nicht abwenden. Ihre Widerborstigkeit, ihre stille Musterung, nagten an ihm und weckten eine Sehnsucht, die er unter Schichten aus Disziplin begraben hatte. Er lehnte sich vor, gerade so weit, dass das schwache Licht den Rand seiner Maske einfing und sein Schatten sich lang über den Balkonrand zog. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, doch er spürte den Sog, den unsichtbaren Faden, der sich zwischen ihnen spannte. Gefährlich. Unwiderstehlich.

* * *

Ava spürte das Gewicht unsichtbarer Blicke, während eine Hand an ihrem Ellbogen sie durch die erdrückende Intimität des Karmesinroten Raums führte. Die Luft lag schwer auf ihrer Haut, durchdrungen vom Duft nach Bernstein und geflüsterten Versprechen. Ihre Stiefel klackerten auf dem obsidianfarbenen Boden, jeder Schritt spiegelte sich in der gläsernen Oberfläche darunter und verdoppelte ihre Präsenz zu etwas Geisterhaftem. Vor ihr erhob sich das zentrale Podest – eine erhöhte Bühne aus poliertem Stein, auf der andere Mädchen bereits standen, ihre Körper wie Skulpturen in einer verbotenen Galerie arrangiert. Ihre Seide fiel mit bewusster Anmut über ihre Kurven, Gesichter halb verborgen hinter Spitzenmasken, Lippen leicht geöffnet. Ein lebendes Tableau, bereit zur Begutachtung.

Sie stieg die flachen Stufen hinauf, ihr Puls ein stetiger Trommelschlag gegen die langsamen, hypnotischen Klänge des Raums. Die anderen Mädchen würdigten sie keines Blickes, ihre Augen auf einen fernen Punkt gerichtet, als wären sie darauf trainiert, sich im Ritual aufzulösen. Avas Kiefer spannte sich. Sie würde nicht verschwinden. Nicht hier. Nicht für sie.

Eine maskierte Gestalt näherte sich, ihre Bewegungen fließend, fast ehrfürchtig, und reichte ihr ein Glas Wein. Das Kristall fing das rote Licht ein, glühte wie ein Splitter aus Blut. „Für den Mut“, murmelte er, die Stimme gedämpft hinter der Verkleidung, ein Schmunzeln unter dem Rand aus schwarzem Leder.

Sie nahm es, ihre Finger streiften den kalten Stiel. Der Wein glitt ihre Kehle hinab, dunkel und schwer, und verbreitete Wärme in ihrer Brust. Kanten wurden weicher. Die scharfen Konturen des Raums verschwammen zu einem Dunst, der Puls der Musik wob sich enger um ihre Sinne. Ihre Gedanken wurden träge, Nebel kroch in die Ecken ihres Geistes, doch sie hielt sich an ihrer Klarheit fest, weigerte sich, gänzlich abzurutschen. Das war keine Feier. Es war eine Zeremonie, jede Geste bedeutungsschwer, jeder Atemzug ein Schritt in einem uralten Tanz, den man ihr nie beigebracht hatte.

Eine Berührung landete auf ihrer Schulter, leicht, aber bestimmt, und zog ihren Blick nach oben. Ihre Augen trafen auf seine – verborgen hinter einer Maske aus glattem Obsidian, nur das scharfe Glitzern der Iris sichtbar. Keine Wärme dort, kein Funke von Verlangen. Nur kalte, unerbittliche Konzentration, als würde er mit einem einzigen Blick ihre Schichten durchdringen. Raphaël. Sie kannte seinen Namen noch nicht, doch das Gewicht seines Blickes grub sich in sie, markierte sie als etwas, das es zu entschlüsseln galt.

* * *

Raphaëls Blick brannte sich in Ava, unnachgiebig, bis das Gewicht davon zu etwas Greifbarem wurde, einem Band, das sie nicht zerreißen konnte. Er stieg die Stufen von einem schattigen Balkon herab, seine Präsenz durchschnitt den aufgeladenen Dunst des Karmesinroten Raums. Jedes maskierte Gesicht wandte sich ihm zu, die Luft wurde schwerer, als Gemurmel verstummte. Seine Maske war verschwunden, abgelegt, und enthüllte ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt – kantig, undurchdringlich, mit Augen wie Winter, die durch das schwache rote Glühen stachen. Ein Mann enthüllt, der den Raum herausforderte, zu lange hinzusehen.

Er blieb vor ihr stehen, nah genug, dass sie den schwachen Hauch von Sandelholz auf seiner Haut wahrnahm. Ohne ein Wort streckte er seine Hand aus, die Handfläche nach oben, ein unausgesprochener Befehl. Ihre Finger zögerten über seinen, der Raum zwischen ihnen knisterte, bevor sie ihre Hand in seinen Griff legte. Fest. Kalt. Er zog leicht, führte sie vom Podest herunter, weg von den starrenden Skulpturen aus Spitze und Seide.

Sie bewegten sich durch einen schmalen Flur, der den Hauptraum flankierte, Samtvorhänge streiften ihre Schulter, während sie vorbeigingen. Das Summen des Karmesinroten Raums verblasste, verschluckt von einer drückenden Stille. Er schob eine verborgene Wandplatte auf und enthüllte einen Raum hinter einer verspiegelten Wand. Weiches Licht fiel von einer einzelnen Deckenleuchte, warf schwache Schatten über eine spärliche Einrichtung – eine Chaiselongue, ein niedriger Tisch, nichts weiter. Stille herrschte, dicht und absolut, als hätte der Klang selbst Angst, hier einzudringen.

Er ließ ihre Hand los, trat an den Tisch, wo ein Glaskrug stand. Wasser einschenkend, bot er es ihr ohne Aufhebens an, seine Bewegungen präzise wie die eines Chirurgen. Sie nahm es, der kühle Rand drückte gegen ihre Lippen, während sie trank und spürte, wie sein Blick sich in jeden ihrer Schlucke einprägte.

Endlich sprach er, die Stimme tief, eine Klinge, umhüllt von Seide. „Du gehörst nicht auf diese Bühne.“

Ihr Griff um das Glas verstärkte sich, das Wasser darin zitterte. „Und wo gehöre ich hin?“

Seine Augen wanderten über sie, nicht hungrig, sondern prüfend, als würde er die Maske, die sie noch trug, abtragen. „Das hängt davon ab, wie viel du bereit bist, preiszugeben.“

Die Luft zwischen ihnen spannte sich, schwer von unausgesprochenen Stürmen, elektrisierend von dem, was unter ihren Worten lauerte. Sein Gesicht, unmaskiert, war eine Karte der Zurückhaltung – Kiefer angespannt, Lippen eine harte Linie, doch etwas flackerte in der Tiefe seines Blickes, ein Geheimnis, straff gespannt, bereit zuzuschlagen.