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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Im Bann der verbotenen Wahrheit


Louisa Benner

Die Nacht hatte eine bedrückende Schwere, die Louisa wie ein nasses Tuch umfing, während sie auf ihrem alten Schreibtischstuhl saß. Ihre Ellbogen ruhten auf der Tischkante, die Finger verkrampft in ihrem Haar. Das flackernde Licht der Schreibtischlampe warf unsichere Schatten an die Wände, die sich mit den düsteren Gedanken in ihrem Kopf vermischten. Der Bildschirm ihres Laptops war schwarz, doch der USB-Stick, der in einem der Ports steckte, schien wie ein schlafender Dämon, der nur darauf wartete, entfesselt zu werden. Ihre Augen blieben auf dem kleinen, unscheinbaren Gerät haften, während Markus' Notiz in ihrem Kopf widerhallte: „Gerechtigkeit ist eine Illusion – Wahrheit ist gefährlich.“

Sie atmete tief durch, versuchte die innerliche Ohnmacht zu verdrängen, während ihre Finger unruhig über den Rand des Tisches trommelten. Der Name „Volkov“ war nicht nur ein Wort. Er brannte sich in ihre Gedanken, ein Echo, das sie nicht abschütteln konnte. Sie wusste, dass sie nicht aufgeben durfte. Nicht jetzt.

Ihre Hand griff langsam nach ihrem Handy. Sie scrollte durch ihre Kontakte, bis sie bei einem Namen innehielt: Sarah. Ein kurzes, schmerzhaftes Ziehen durchfuhr sie. Seit ihrer Suspendierung hatte sie mit Sarah keinen Kontakt mehr gehabt. Die Hackerin war die Einzige, die Louisa in dieser Situation helfen konnte – und gleichzeitig ein Mahnmal für all die Beziehungen, die sie durch ihren Eifer aufs Spiel gesetzt hatte. Für einen Moment zögerte sie, dann drückte sie entschlossen auf „Anrufen“.

Nach drei Klingeltönen erklang Sarahs schläfrig-kratzige Stimme. „Louisa?“

„Sarah, ich weiß, wie spät es ist, aber ich brauche deine Hilfe,“ sagte Louisa schnell, ihre Stimme brüchig.

Am anderen Ende der Leitung herrschte eine angespannte Stille, dann ein genervtes Seufzen. „Du tauchst nach all den Monaten plötzlich wieder auf und...“

„Es geht um Markus,“ unterbrach Louisa sie, ihre Stimme zitterte leicht. Es war, als ob der Name alle Vorwürfe in der Luft erstickte.

Sarah schwieg, und Louisa konnte das leise Rascheln von Decken hören, als ihre ehemalige Kollegin sich offenbar aufrichtete. „Okay,“ sagte Sarah schließlich. Ihre Stimme klang jetzt ruhiger, ernster. „Was ist passiert?“

Louisa erklärte ihr die Situation – zumindest so viel, wie sie für nötig hielt. Sie sprach von den Dokumenten, dem USB-Stick und Markus' Tod. Den Namen „Volkov“ ließ sie jedoch bewusst aus. Während sie sprach, hörte sie das rhythmische Tippen einer Tastatur am anderen Ende der Leitung.

„Bring den Stick zu mir,“ sagte Sarah schließlich. „Ich sehe, was ich tun kann. Aber Louisa... wenn Markus' Tod kein Unfall war, dann rennst du geradewegs in einen Sturm.“

„Ich weiß,“ flüsterte Louisa.

***

Der kalte Regen prasselte gegen den Asphalt, während Louisa durch die nächtlichen Straßen von Berlin eilte. Ihre Schritte waren hastig, ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Der Gedanke, dass jemand sie beobachten könnte, ließ sie unwillkürlich über die Schulter blicken. Die Dunkelheit flüsterte ihr zu, ließ Schatten an den Ecken der Gebäude zu Gestalten werden. Doch niemand war zu sehen.

Das unauffällige Mietshaus, vor dem sie schließlich stehenblieb, ragte wie ein dunkler Monolith vor ihr auf. Louisa zog ihren Mantel enger um sich und eilte die Stufen hinauf. Noch bevor sie anklopfen konnte, wurde die Tür geöffnet.

Sarah stand in der Tür, trug ein weites Sweatshirt, und ihre kurzen blonden Haare standen in alle Richtungen ab. Sie schob ihre Brille hoch und musterte Louisa mit einem skeptischen Blick. „Das ist also ernst,“ sagte sie trocken und trat zur Seite, um sie hereinzulassen.

Drinnen herrschte kontrolliertes Chaos. Kabelschlingen und elektronische Geräte bedeckten die Tische, halbleere Kaffeetassen standen zwischen Monitoren, die Codezeilen in schneller Abfolge scrollten. Der Raum roch nach abgestandenem Kaffee und heißer Elektronik.

„Setz dich,“ sagte Sarah und deutete auf einen Stuhl vor ihrem Hauptcomputer. Louisa gehorchte und reichte ihr den USB-Stick. Sarahs Finger flogen über die Tastatur, und schon bald erschienen die Ordner auf dem Bildschirm.

„Hmm,“ murmelte Sarah, ihre Augen auf den Codezeilen fixiert. „Das ist kein Amateurkram. Die Verschlüsselung ist hochkomplex, aber nicht unknackbar. So etwas habe ich schon mal gesehen.“ Sie drehte sich zu Louisa um und sah sie prüfend an. „Wer hat dir das gegeben?“

Louisa wich ihrem Blick aus. „Ich weiß es nicht.“

Sarah hob eine Augenbraue, sagte aber nichts weiter. Stattdessen wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu. „Ich werde ein paar Stunden brauchen. Es gibt mehrere Schutzmechanismen, und ich muss vorsichtig vorgehen, sonst hinterlasse ich Spuren. Das Letzte, was wir wollen, ist Aufmerksamkeit.“

Louisa öffnete den Mund, doch Sarah unterbrach sie mit einem energischen Kopfschütteln. „Nein, du bleibst nicht hier. Geh nach Hause. Ich melde mich, wenn ich etwas habe.“

„Sarah, ich—“

„Nein,“ sagte Sarah scharf. „Wenn dieser Stick wirklich wichtig ist, dann bist du schon genug in Gefahr. Verschwinde jetzt und lass mich arbeiten.“

Louisa biss die Zähne zusammen, doch sie wusste, dass Sarah recht hatte. Sie stand auf, nickte knapp und griff nach ihrer Tasche. „Danke,“ murmelte sie.

Sarah musterte sie mit einem seltsamen Blick, einer Mischung aus Sorge und Misstrauen. „Pass auf dich auf, Louisa.“

***

Der Regen hatte sich verstärkt, als Louisa das Mietshaus verließ. Sie zog die Kapuze über den Kopf und eilte durch die leeren Straßen. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie nicht los. Die Schatten schienen dichter, das Zwielicht der Straßenlaternen greller. Als sie vor ihrer eigenen Wohnung angekommen war, war sie durchnässt und zitterte, doch sie hatte keine Zeit, sich auszuruhen.

Die Nacht zog sich endlos hin. Louisa konnte nicht schlafen. Sie saß an ihrem Laptop, durchsuchte erneut die gesammelten Dokumente und versuchte, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Markus' Worte – „Wahrheit ist gefährlich“ – schienen immer lauter in ihrem Kopf zu widerhallen.

Als ihr Handy vibrierte, zuckte sie zusammen. Sie griff hastig danach. Es war Sarah.

„Louisa,“ begann Sarah ohne Vorrede. Ihre Stimme klang angespannt. „Du steckst bis zum Hals in der Scheiße.“

Louisas Herz setzte für einen Moment aus. „Was hast du gefunden?“

„Die Dateien enthalten Informationen über Millionen, die über Offshore-Konten verschoben wurden. Es gibt Verbindungen zu internationalen Banken, zum Hafen von Hamburg und zu einer Organisation namens ‚Volkov-Syndikat‘. Aber das ist nicht alles.“

„Was dann?“ flüsterte Louisa.

„Dein Name taucht in einigen E-Mails auf,“ sagte Sarah leise. Ihre Worte hingen schwer in der Luft. „Markus hat offenbar versucht, dich rauszuhalten. Er wollte dich schützen. Aber irgendjemand weiß, dass du jetzt dabei bist.“

Ein kalter Schauer lief Louisa über den Rücken. Sie starrte aus dem Fenster in den grauen Morgenhimmel, während die Wahrheit sich wie ein Netz um sie zog.

„Es gibt noch einen Namen, der immer wieder auftaucht,“ fuhr Sarah fort. „Alexej Volkov. Er ist der Kopf des Syndikats.“

Louisa schloss die Augen. Der Name war wie ein Schuss durch die Dunkelheit. „Ich muss nach Hamburg,“ sagte sie schließlich, ihre Stimme fest.

„Bist du verrückt? Das ist Selbstmord!“ rief Sarah.

„Ich habe keine Wahl,“ entgegnete Louisa. „Markus hat etwas gewusst. Etwas, das ich verstehen muss – und die Wahrheit muss ans Licht.“

Sarah seufzte leise. „Gut. Aber sei vorsichtig, Louisa. Und bleib unsichtbar.“

Louisa legte auf und ließ das Handy sinken. Ein letzter Blick auf den USB-Stick, der auf dem Tisch lag, und sie wusste, dass dies der Anfang einer Reise war, die ihr Leben verändern würde. „Volkov ist der Schlüssel.“