Kapitel 3 — Gefahr in den Tiefen des Hafens
Louisa Benner
Die Luft im Hamburger Hafen war schwer von Salz und Diesel, ein durchdringender Geruch, der Louisa beim ersten Atemzug fast überwältigte. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke höher, schlang den Schal fester um den Hals und ließ ihren Blick über das Treiben schweifen. Die metallischen Schreie von Kränen, die Container stapelten, und das dumpfe Rauschen der Elbe bildeten eine kakophonische Kulisse. Die schlichte Jeans, der schwarze Mantel und das Basecap sollten sie im geschäftigen Treiben unsichtbar machen, doch die Anspannung in ihrem Inneren ließ sie sich beobachtet fühlen.
Vor ihr erstreckte sich ein riesiges Labyrinth aus Containern, ihre bunten Oberflächen verblasst und mit Schmutz bedeckt. Jedes Mal, wenn ihr Blick auf die Worte „Volkov Logistik“ prallte – in großen, weißen Buchstaben auf einem nahegelegenen Gebäude –, schien ihr Herz schneller zu schlagen. Die Worte schienen sie auszuhöhnen, sie daran zu erinnern, wie gefährlich ihre Suche nach Antworten war.
Louisa zog ein Klemmbrett aus der Tasche, das mit einigen Notizen versehen war, und hielt es vor sich, um den Anschein eines Journalisten zu erwecken, der harmlose Fragen stellte. Doch hinter ihrer Fassade pulsierte die Erinnerung an Markus’ Tod und den Namen „Volkov“, der sie unaufhaltsam hierher getrieben hatte. Ihre Finger verkrampften sich um das Klemmbrett, als sie die nächsten Schritte abwog.
Mit einem tiefen Atemzug näherte sie sich einer Gruppe von Hafenarbeitern, die in der Nähe eines mächtigen Krans rauchten. Ihre Gesichter waren müde, ihre Bewegungen langsam, doch sie wirkten wachsam. Louisa blieb an einem Mann in einem blauen Overall hängen, dessen wettergegerbtes Gesicht und dunkle Bartstoppeln von einem Leben unter freiem Himmel erzählten. Er wirkte zurückhaltend, aber nicht unfreundlich. Vielleicht war er ihre beste Chance.
„Entschuldigung,“ sagte sie und trat näher, wobei sie bemüht war, ihre Stimme ruhig zu halten. Der Mann sah auf, zog skeptisch eine Augenbraue hoch und musterte sie, bevor er seine Zigarette ausdrückte.
„Was willst du?“ Seine Stimme war rau, als hätte er jahrelang nichts anderes als Diesel und Zigarettenrauch eingeatmet.
Louisa hielt das Klemmbrett leicht hoch. „Ich schreibe an einem Artikel über die Logistikbranche hier im Hafen. Ich suche jemanden, der mir ein paar Fragen beantworten kann – über die Arbeit hier und wie sich alles verändert hat.“
Der Mann lachte trocken und zog eine Hand durch seinen Bart. „Ein Artikel über uns Hafenarbeiter? Was soll daran schon interessant sein?“
„Vielleicht mehr, als die Leute denken,“ antwortete Louisa mit einem gezwungenen Lächeln. Sie versuchte, ihre innere Anspannung zu verbergen. „Ich glaube, viele unterschätzen, wie wichtig dieser Ort ist.“
Er musterte sie weiter und nickte schließlich. „Ich bin Kai. Was willst du wissen?“
„Zum Beispiel: Gibt es hier besondere Aktivitäten? Arbeiten, die nachts stattfinden?“ Louisa bemühte sich, beiläufig zu klingen, doch ihre Finger klammerten sich fest an das Klemmbrett.
Kai runzelte die Stirn, und für einen Moment schien er zu überlegen, ob er antworten sollte. „Warum interessiert dich das?“
„Neugier,“ sagte Louisa schnell und ließ ihre Stimme ein wenig sinken. „Ich habe gehört, dass nachts Container bewegt werden, die nicht auf offiziellen Listen stehen. Stimmt das?“
Kais Augen verengten sich, und seine Haltung wurde steifer. „Wer hat dir das erzählt?“
„Niemand. Ich habe nur Vermutungen angestellt,“ entgegnete sie ruhig, doch ihr Herz schlug schneller. „Wenn Sie nichts davon wissen, ist das in Ordnung.“
Kai schwieg eine Weile, seine Hände steckten tief in den Taschen seines Overalls. Schließlich trat er einen Schritt näher und murmelte: „Manchmal passieren hier Dinge, die besser unkommentiert bleiben. Gerade nachts. Wenn du klug bist, fragst du nicht zu viel nach.“
„Warum?“ Louisa hielt seine Augen fest, obwohl sie die Nervosität in seiner Stimme spürte. „Haben Sie Angst vor jemandem?“
Kai wich einen halben Schritt zurück und zog den Kopf in den Kragen seines Overalls. „Ich habe keine Angst. Aber manchmal ist es besser, sich rauszuhalten.“ Er warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter, als hätte er etwas bemerkt, das sie nicht sehen konnte. „Du solltest nicht hier sein.“
Louisa wollte gerade eine weitere Frage stellen, als sie das Geräusch von schweren Schritten hinter sich hörte. Reflexartig drehte sie sich um und bemerkte zwei Männer, die langsam, aber zielgerichtet auf sie zukamen. Beide trugen dunkle Kleidung, ihre Statur kräftig, ihre Bewegungen geschmeidig. Die Art, wie sie sich verhielten – ruhig, aber mit einem klaren Ziel – ließ Louisas Herz schneller schlagen.
Bevor sie sich erneut umdrehen konnte, hatte Kai sich bereits entfernt, seine Gestalt verschwand zwischen den Containern.
Louisa spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und ging in die entgegengesetzte Richtung, doch die Schritte folgten ihr. Panik kroch in ihr hoch, während sie um die nächste Ecke bog und ihre Schritte beschleunigte. Die Container um sie herum fühlten sich wie riesige, kalte Mauern an, die sie gleichermaßen schützten und gefangen hielten.
Sie bog in eine schmale Gasse ein und presste sich an die Seite eines Containers. Ihr Atem kam stoßweise, und sie versuchte, leise zu bleiben, während sie lauschte. Die Schritte wurden langsamer und hielten schließlich an. Ein gedämpftes Gespräch folgte, doch sie konnte die Worte nicht verstehen.
Langsam und vorsichtig schlich sie sich weiter an der kalten Metallwand entlang, ihr Blick suchte fieberhaft nach einem Ausgang. Schließlich entdeckte sie eine kleine Lücke zwischen zwei Stapeln von Containern, die zu einer offenen Fläche führte. Mit einem letzten Blick über die Schulter sprintete sie los.
Das Rufen hinter ihr und die hastigen Schritte der Männer ließen sie schneller laufen, obwohl ihre Beine schwer wurden. Die offene Fläche war größer, als sie erwartet hatte, und sie fühlte sich plötzlich ungeschützt. Plötzlich tauchte einer der Männer vor ihr auf.
„Bleiben Sie stehen!“ rief er, doch Louisa wich zur Seite aus, stolperte und fiel. Als der Mann sich über sie beugte, trat sie mit aller Kraft zu, traf sein Schienbein, und er stieß einen schmerzhaften Fluch aus. Sie raffte sich auf und rannte weiter, doch der zweite Mann war nun in ihrer Nähe.
Gerade als sie keine Hoffnung mehr hatte, entdeckte Louisa ein offenes Tor, das zu einem verlassenen Lagerhaus führte. Sie stürmte hinein und duckte sich hinter eine massive Maschine. Ihr Herz raste, und jeder Atemzug schien ihre Anwesenheit zu verraten.
Die Schritte hallten durch die Halle, begleitet von gedämpften Stimmen. Louisa kroch tiefer in den Schatten, während sie krampfhaft nach einem Plan suchte. Plötzlich verstummte der Lärm, und sie hörte etwas, das wie ein dumpfer Schlag klang. Ein erstickter Schrei folgte.
Langsam spähte sie aus ihrem Versteck. Einer der Männer lag reglos am Boden. Der andere stand noch, doch seine Haltung war angespannt, seine Augen suchten hektisch die Dunkelheit ab. Bevor er reagieren konnte, tauchte eine hohe, dunkle Gestalt aus dem Schatten auf und schlug ihn mit einer einzigen Bewegung nieder.
Die Effizienz und Kraft des Angriffs ließen Louisa innehalten. Die Gestalt – ein Mann in einem langen, dunklen Mantel – bewegte sich mit stiller Präzision. Sein Gesicht blieb im Halbdunkel verborgen, doch etwas an seiner Haltung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Bevor sie etwas sagen oder sich bedanken konnte, verschwand er so plötzlich, wie er aufgetaucht war.
Louisa ließ sich zurück gegen die Maschine sinken, ihr Atem keuchend, ihr Körper zitterte. Wer auch immer dieser Mann war, er hatte sie gerettet. Aber warum? Und warum fühlte sie eine seltsame Mischung aus Dankbarkeit und Furcht?
Sie wusste nur eins: Sie war tiefer in die Welt des Volkov-Syndikats eingetaucht, als sie es sich je hätte vorstellen können. Und die Gefahr, die sie umgab, wuchs mit jedem Schritt, den sie machte.