Kapitel 2 — Zeichen am Horizont
Dritte Person
Die ersten Strahlen des Morgenlichts durchbrachen die dunklen Schatten des Schwarzwalds, tauchten die Bäume in ein blasses, silbriges Glühen. Liv Hagen kniete am Waldrand, die Augen geschlossen, die Hände über eine kleine Ansammlung von Kräutern ausgestreckt. Ihre Finger glitten sanft über die Blätter, während sie die vertrauten Energien des Waldes zu spüren suchte. Doch etwas stimmte nicht.
Die Pflanzen fühlten sich anders an, träge und schwach, als ob sie gegen eine unsichtbare Barriere kämpfen müssten, um zu wachsen. Die Blätter wirkten welk, und winzige Eiskristalle hatten sich an den Spitzen gebildet, obwohl die Luft mild war. Liv öffnete die Augen. Ihre smaragdgrünen Iriden schimmerten im frühen Licht, doch ein tiefer Schatten lag darin. Die Kräuter, die sie so oft geheilt hatte, reagierten nicht auf ihre Magie. Ihre Kraft schien wie versickert, das grüne Leuchten, das sonst ihre Fingerspitzen umgab, fehlte. Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. War es möglich, dass ihr Traum mehr als nur eine Illusion gewesen war?
Ein leises Rascheln ließ sie aufblicken. Ein Schwarm Vögel erhob sich vom nahen Baumdach, ihre schwarzen Silhouetten stachen gegen den aufhellenden Himmel hervor. Sie flogen in chaotischen, wirbelnden Mustern, bevor sie sich nach Süden orientierten und aus ihrem Blickfeld verschwanden. Das war das dritte Mal in dieser Woche, dass sie so etwas beobachtet hatte. Etwas zwang sie, den Wald zu verlassen. Ein seltsamer, hoher Laut, fast wie ein schrilles Keckern, hallte aus der Ferne wider. Es war ein Geräusch, das sie noch nie zuvor gehört hatte, und es ließ ihren Atem stocken.
Liv stand auf und strich ihren Umhang glatt. Die kühle Morgenluft zog durch die dichten Äste, trug den Geruch von Moos und feuchtem Holz mit sich, doch es lag eine unerklärliche Schwere in der Atmosphäre. Sie konnte es nicht benennen, aber es fühlte sich so an, als würde der Wald den Atem anhalten.
„Liv.“ Die tiefe, warme Stimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Als sie sich umdrehte, stand Raphael Wolf nur wenige Schritte entfernt und musterte sie mit durchdringendem Blick. Sein Gesicht war ernst, seine eisblauen Augen wirkten noch kälter als sonst, durchzogen von einem Hauch von Besorgnis.
„Raphael.“ Sie nickte ihm zu, ihre Stimme ruhig, doch ihre Finger spielten nervös mit einer Haarsträhne. „Du bist früh unterwegs.“
„Ich hätte dasselbe über dich sagen können.“ Er trat näher, sein Blick wanderte zu den welken Kräutern. „Es stimmt etwas nicht, nicht wahr?“
Liv wandte sich ab, ihre Augen glitten über das Dickicht, als könnte sie dort eine Antwort finden. „Ich weiß es nicht genau. Die Pflanzen reagieren nicht wie sonst. Und hast du die Vögel gesehen? Sie fliegen in Scharen nach Süden, als ob sie etwas ahnen, das wir nicht sehen können.“
Raphael schwieg, während er die Umgebung musterte. Sein Kiefer mahlte leicht, als er nachdachte. „Im Norden ist es ähnlich. Samuel hat berichtet, dass in den höheren Regionen der Wälder Schnee gefallen ist. Mitten im Sommer.“ Seine Stimme war ruhig, aber die Spannung in seiner Haltung verriet mehr, als er sagte. Raphael war ein Mann, der selten alarmiert war, doch selbst er konnte die seltsamen Veränderungen nicht ignorieren.
Livs Augen weiteten sich. „Schnee? So plötzlich? Das ergibt keinen Sinn.“ Sie zog ihren Umhang enger um sich, obwohl die Luft nicht kalt genug war, um sie frieren zu lassen. Irgendetwas in Raphaels Worten verstärkte das beunruhigende Gefühl in ihr. Eine Erinnerung flackerte in ihrem Geist auf: die eisigen Augen aus ihrem Traum, das Flüstern einer uralten, drohenden Präsenz. „Es … es erinnert mich an etwas aus meinem Traum.“ Ihre Stimme war leise, als wollte sie die Worte vor sich selbst verbergen. „Etwas Kaltes, Bedrohliches.“
„Es gibt noch mehr. Die Tiere … sie verhalten sich seltsam. Die Wölfe unseres Clans heulen nachts ohne Grund. Es ist, als ob sie etwas wittern, eine Gefahr, die wir nicht sehen können.“ Raphael verschränkte die Arme vor der Brust, seine Stimme senkte sich. „Und die Ältesten sprechen von alten Geschichten. Geschichten über einen großen Frost, der alles verschlang.“
Bevor Liv antworten konnte, drang ein vertrautes Geräusch durch die Bäume. Schritte. Schnelle, entschlossene Schritte, die näher kamen. Kurz darauf erschien eine schlanke Gestalt zwischen den Bäumen – Freya. Ihr blondes Haar war zum Knoten gebunden, ihre Kleidung zeigte die Abzeichen ihres Clans, doch auch sie trug den Ausdruck von jemandem, der Antworten suchte, die schwer zu finden waren.
„Liv, Raphael.“ Freyas Stimme war fest, aber besorgt. Sie musterte beide, bevor sie weitersprach. „Ihr habt es auch bemerkt, nicht wahr? Die Unruhe, die Veränderungen.“
Raphael antwortete mit einem knappen Nicken. „Hier stimmt etwas nicht, Freya. Der Wald … er verhält sich nicht wie sonst.“
Freya trat zu Liv, ihre Augen suchten die ihren, und für einen Moment war zwischen ihnen die alte Freundschaft spürbar, die sie verbunden hatte, bevor alles kompliziert wurde. „Ich habe mit anderen Clans gesprochen. Sie berichten von ähnlichen Dingen. In ihren Gebieten verlieren die Heiler ihre Verbindung zur Magie, Flüsse frieren über Nacht ein, und niemand kann erklären, warum.“
Livs Herz zog sich zusammen. Sie dachte an ihren Traum, an die eisige Präsenz und die leuchtenden blauen Augen. Konnte es wirklich einen Zusammenhang geben? Oder spielte ihr Verstand ihr nur einen Streich?
„Wir sollten die Ältesten konsultieren,“ schlug Freya vor. „Vielleicht wissen sie mehr über diese alten Geschichten, von denen sie immer reden.“
Raphael schüttelte den Kopf. „Die Ältesten können uns Geschichten und Warnungen geben, aber ich glaube nicht, dass sie uns in dieser Sache helfen können. Das ist größer, als wir es verstehen können.“
Freya runzelte die Stirn, doch sie widersprach nicht. Stattdessen legte sie eine Hand auf Livs Arm. „Was denkst du, Liv? Du warst schon immer gut darin, die Zeichen des Waldes zu deuten.“
Liv sah von Freya zu Raphael und dann wieder in den Wald, der vor ihnen lag. Die Stille zwischen den Bäumen war unnatürlich, fast bedrohlich. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre eigene Unsicherheit lähmte sie. Doch sie spürte, dass etwas kommen würde – etwas, das größer war als alles, was sie bisher erlebt hatten.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete sie schließlich. „Aber … ich habe das Gefühl, dass wir auf den Beginn von etwas Unheilvollem zusteuern.“
Das Schweigen, das sich daraufhin zwischen ihnen ausbreitete, wurde nur von einem plötzlichen, gleißend kalten Wind durchbrochen, der durch die Bäume fegte und die Blätter erbeben ließ. Freya zog ihre Stirn kraus und flüsterte: „Das ist kein gewöhnlicher Wind. Es ist … als ob er etwas mit sich trägt.“
Liv spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete, und für einen Moment meinte sie, das Flüstern aus ihrem Traum zu hören.
Raphael zog seinen Umhang enger, sein Blick war scharf und fokussiert. „Wir dürfen nichts riskieren. Freya, wir müssen die Clans warnen, dass sie auf alles vorbereitet sein sollen. Und Liv …“ Seine Stimme wurde sanfter, als er sie ansah. „Bleib vorsichtig. Was auch immer das ist, es sucht vielleicht genau nach dir.“
Liv wollte ihm widersprechen, wollte sich gegen die Vorstellung wehren, dass sie erneut der Schlüssel zu einer Krise sein könnte, doch sie wusste, dass er recht hatte. Irgendetwas hatte sich verändert, und ob sie es wollte oder nicht, sie würde eine Rolle in dem spielen, was kommen würde.
„Wir werden wachsam sein,“ sagte sie schließlich, die Worte waren mehr eine Versicherung für sie selbst als für die anderen.
Der Wind flaute ab, doch die darin liegende Kälte blieb. Raphael und Freya tauschten einen kurzen Blick, dann nickte Raphael. „Wir sollten zurück ins Lager gehen. Die anderen müssen davon erfahren.“
Als die drei sich auf den Weg machten, blieb Liv einen Moment hinter den beiden zurück. Ihre Gedanken rasten, Unsicherheit und Furcht wühlten in ihrem Inneren. Ein letzter Blick zurück zum Waldrand ließ sie innehalten. Es war, als ob die Bäume sich im Schatten bewegten, flüsternd und wartend.
„Etwas kommt,“ flüsterte sie leise zu sich selbst, bevor sie den anderen folgte.