Kapitel 2 — Verborgene Zeichen
Clara
Claras Finger glitten unruhig über den Rand ihrer Kaffeetasse, während sie ihre Umgebung im Café „Freiraum“ studierte. Das warme, behagliche Licht der kleinen Lampen spiegelte sich in den Fenstern wider und zeichnete sich gegen die Dunkelheit der kühlen Nacht ab. Die Wände des Cafés waren mit gerahmten Zeitungsausschnitten und farbenfrohen Bildern gefüllt, die Geschichten von aufstrebenden Künstlern und längst vergangenen Ereignissen in sich trugen. Es war ein Ort voller Leben und zugleich ein Refugium – ein geschützter Raum, der Clara schon oft dabei geholfen hatte, ihre Gedanken zu ordnen und Pläne zu schmieden. Doch heute fühlte sich dieses sichere Nest anders an, als könnte die drohende Last der Entscheidungen, die vor ihr lagen, selbst die gemütlichste Atmosphäre durchbrechen.
Ihr Blick blieb an Hanna, ihrer Mentorin, hängen. Hanna stand hinter dem Tresen und führte mit der Präzision eines Künstlers schwungvolle Kreise in den Milchschaum eines Cappuccinos. Ihre grauen Strähnen leuchteten im gedämpften Licht, und die Energie in ihren Augen war so scharf und wachsam wie eh und je. Hanna war jemand, der trotz der Narben, die das Leben hinterlassen hatte, nie den Kampfgeist verloren hatte. Als sie Claras Blick spürte, hob sie eine Augenbraue, legte ein wissendes Lächeln auf und kam mit zwei dampfenden Tassen zu ihrem Tisch.
„Du siehst aus, als hättest du gerade einen Goldschatz entdeckt – und den Drachen bemerkt, der ihn bewacht“, stellte Hanna trocken fest und schob Clara eine Tasse hin. Der Duft von frischem Kaffee stieg auf, beruhigend und vertraut.
Clara konnte ein schwaches Lächeln nicht unterdrücken. „Vielleicht liegst du damit gar nicht so falsch.“
„Na dann, raus mit der Sprache“, forderte Hanna, während sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnte. Sie hielt ihre Tasse mit beiden Händen fest und fixierte Clara mit einem Blick, der keinen Widerspruch zuließ. „Was geht in deinem Kopf vor, Hoffmann?“
Clara zögerte, nahm die Tasse in die Hände und ließ den heißen Becher gegen ihre kalten Finger drücken, während sie die richtigen Worte suchte. „Gestern Abend... habe ich etwas bekommen.“ Sie atmete tief ein, bevor sie weitersprach. „Einen Umschlag. Ohne Absender. Darin waren Dokumente über die Falkenberg-Familie.“
Das Lächeln in Hannas Gesicht verschwand. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, und sie überlegte einen Moment. „Die Falkenbergs. Eine gefährliche Liga. Was stand in diesen Dokumenten?“
Clara senkte ihren Blick und sprach leise weiter. „Es könnte... eine Verbindung zu meinem Vater geben. Zu seinem Tod.“ Es kostete sie Überwindung, die Worte laut auszusprechen. Ihre Stimme war dabei fast erstickt.
Hanna stellte ihre Tasse ab, und ihre Haltung veränderte sich. Die sonst so unerschütterliche und oft spöttische Frau wurde ernst. „Clara, das ist kein Spiel. Wenn du dich mit den Falkenbergs anlegst, kann das gefährlich werden – nicht nur für dich.“
„Ich weiß.“ Clara sah Hanna an, und in ihren Augen lag eine Entschlossenheit, die fast trotzig wirkte. „Aber ich habe keine Wahl. Wenn es eine Chance gibt, die Wahrheit herauszufinden, dann kann ich nicht einfach wegsehen.“
Hanna musterte Clara eindringlich, ließ die Stille einen Moment wirken und nickte dann langsam. „Okay.“ Sie griff nach ihrer Tasse und trank einen Schluck, bevor sie fortfuhr. „Erzähl mir, was du bisher herausgefunden hast.“
Clara begann, die wichtigsten Informationen aus dem Umschlag zusammenzufassen – die Berichte, die Namen Jonathan, Philipp und Victor von Falkenberg, die Gerüchte über Victors Machenschaften und den vergilbten Artikel, der ihren Vater erwähnte. Während sie sprach, schien Hanna jede Information wie ein Puzzle-Stück aufzunehmen und in ihrem Kopf an die richtige Stelle zu setzen.
„Victor von Falkenberg also“, murmelte Hanna schließlich. „Er ist wie ein Schatten, immer in der Nähe, aber nie greifbar. Die meisten Leute in diesen Kreisen wissen, dass er gefährlich ist, aber niemand spricht es offen aus.“
„Und genau deshalb glaube ich, dass er der Schlüssel ist.“ Clara lehnte sich vor. „Wenn ich mehr über ihn herausfinde, könnte ich die Verbindung herstellen.“
Hanna schüttelte den Kopf. „Du wirst nicht weit kommen, wenn du nur in deinem Apartment suchst oder auf anonyme Hinweise wartest. Die Spiele dieser Leute werden nicht auf deiner Ebene gespielt. Sie spielen sie auf ihren Bällen, ihren exklusiven Galas – dort, wo sie denken, dass sie unantastbar sind.“
Clara runzelte die Stirn. Sie wusste, dass Hanna recht hatte, dennoch sträubte sich etwas in ihr gegen den Gedanken, diese Welt zu betreten. Eine Welt, die sie verachtete: die glänzenden Oberflächen, die bedeutungslosen Gespräche, der ständige Druck, perfekt zu sein.
„Es gibt da eine Gelegenheit.“ Hannas Stimme ließ Clara aufmerken. Die ältere Frau zog eine Einladung aus ihrer Tasche und hielt sie zwischen zwei Fingern hoch, fast spielerisch. „Eine Gala in der Villa Falkenberg. Nächste Woche.“
Claras Augen weiteten sich. Sie griff nach der Einladung, doch Hanna zog sie gerade rechtzeitig zurück. „Bevor ich dir das gebe, Hoffmann: Bist du dir sicher, dass du dich darauf einlässt? Du weißt, dass es keine harmlosen Auswirkungen haben wird, oder?“
„Ich weiß, was auf dem Spiel steht.“ Claras Stimme war fest, aber ein Schatten von Unsicherheit flackerte in ihren Augen auf.
Hanna betrachtete sie nachdenklich, dann reichte sie ihr die Einladung. „Gut. Aber Clara, pass auf dich auf. Wirklich.“
Clara nahm die Einladung und strich mit den Fingern über das schwere Papier. Goldene Buchstaben verkündeten eine Wohltätigkeitsgala, die mit Sicherheit die gesamte Elite der Stadt anziehen würde. „Wie hast du das bekommen?“ fragte sie, überrascht.
Hanna lächelte schief. „Ein alter Kontakt. Man vergisst nie ganz, wie diese Welt funktioniert, auch wenn man sie verlässt.“
Clara warf der Einladung einen skeptischen Blick zu. Die goldene Schrift schien wie ein Symbol für die Verschlossenheit und Arroganz dieser Welt. „Und wie komme ich rein, ohne dass sie mich sofort durchschauen? Ich werde wie ein Fremdkörper sein.“
„Rein kommen ist das Leichteste“, sagte Hanna trocken. „Dein Problem wird sein, wie du glaubwürdig bleibst. Du musst eine Rolle spielen, Clara. Verstehst du? Sie müssen denken, du bist eine von ihnen. Nur dann wirst du Zugang zu dem haben, was du suchst.“
Clara nickte langsam. Worte und Gedanken schwebten in ihrem Kopf umher, während sie die Einladung betrachtete. Die Gala war ein Risiko, ja, aber auch eine einmalige Chance. Eine Gelegenheit, die sie nicht verstreichen lassen konnte.
Mit einem letzten Schluck Kaffee setzte sie die Tasse ab. „Ich brauche ein Kleid“, sagte sie schließlich, und zum ersten Mal an diesem Abend entlockte sie Hanna ein Lachen.
„Das lässt sich arrangieren“, sagte die ältere Frau und legte eine Hand auf Claras Arm. „Aber Clara – vergiss nicht, warum du das tust. Halte deinen Fokus.“
Als Clara das Café später verließ, fühlte sie die kühle Nachtluft auf ihrer Haut und blickte in die funkelnden Lichter der Stadt. Sie hielt die Einladung fest in der Hand, als wäre sie ein Schlüssel zu all den Geheimnissen, die sie suchte.
„Die Gala in der Villa Falkenberg“, murmelte sie leise zu sich selbst. Der Gedanke ließ ihre Nerven pulsieren, doch gleichzeitig spürte sie einen Funken von Vorfreude.
Mit entschlossenen Schritten machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrem Apartment, während die Stadt um sie herum leise summte. Jede Entscheidung, die sie von nun an traf, würde sie entweder näher an die Wahrheit bringen – oder alles zerstören.