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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Flüstern der Legenden


Sophie

Das Licht des frühen Morgens strömte durch die hohen, bleiverglasten Fenster der Bibliothek und warf bunte Schatten auf das steinerne Bodenmuster. Sophie stand am Eingang und ließ ihren Blick ehrfürchtig durch den Raum gleiten. Der Duft von Leder, altem Papier und einem Hauch von Staub erfüllte die Luft, und das leise Knarzen der Eichenbalken unter ihren Füßen schien eine fast sakrale Stille zu begleiten. Es war eine Atmosphäre, die eine Mischung aus Andacht und Abenteuerlust in ihr hervorrief.

Dr. Friedrich Weber, ein Mann mittleren Alters mit sorgfältig gekämmtem grauen Haar und einer Brille, die ihm ein intellektuelles, aber auch leicht distanziertes Aussehen verlieh, trat neben sie. Sein grauer Gehrock war so makellos wie der Tonfall seiner Stimme, die zugleich ruhig und autoritär klang. „Willkommen in der Bibliothek des Klosters Reichenau, Frau Keller. Ich nehme an, Sie werden schnell erkennen, dass dies kein gewöhnlicher Arbeitsplatz ist.“

Sophie nickte und erwiderte höflich: „Vielen Dank, Dr. Weber. Die Ehrerbietung, die man hier spürt, ist beeindruckend. Es ist mir eine Ehre, hier arbeiten zu dürfen.“

Er zog eine Augenbraue hoch, ein kaum merkliches Zeichen von Skepsis, als würde er die Aufrichtigkeit ihrer Worte abwägen. „Nun, das ist gut zu hören. Dies ist kein gewöhnlicher Ort. Unsere Sammlung ist einzigartig. Jedes Buch, jedes Manuskript hat eine Geschichte, viele davon älter, als man glauben mag.“

Mit einem auffordernden Nicken bedeutete er ihr, ihm zu folgen. Ihre Schritte hallten von den steinernen Wänden wider, während sie durch die langen Reihen von Regalen gingen, die bis unter die gewölbten Decken reichten. Die Fresken, die alles über ihnen schmückten, waren verblasst, doch Sophie konnte die Formen von Heiligen und Legenden erkennen. Figuren mit erhobenen Armen und seltsamen Symbolen schienen Szenen einer uralten Geschichte zu erzählen. Eine Darstellung zog besonders ihre Aufmerksamkeit auf sich: eine Gestalt, die einen Halbmond erhob, umgeben von Wölfen und Sternen.

„Ihre Arbeit wird... sensibel sein“, fuhr Dr. Weber fort, als sie zu einem abgelegenen Bereich der Bibliothek kamen, vor dem er mit einer gewissen Feierlichkeit stehen blieb. „Natürlich erwarten wir äußerste Vorsicht und Diskretion. Es gibt, wie Sie verstehen werden, einige Bereiche, die für Außenstehende tabu sind.“

Das Wort „tabu“ ließ Sophie innehalten. Sie wollte fragen, was genau er damit meinte – welche Geheimnisse sich wohl in diesen Abschnitten verbargen und warum sie so streng geschützt wurden. Doch sie hielt ihre Neugier in Schach. Stattdessen nickte sie, ein Ausdruck von Verständnis auf ihrem Gesicht. „Natürlich, ich verstehe.“

Ein kaum merkliches Lächeln zog über Webers Gesicht, doch es wirkte nicht beruhigend. „Gut. Manche Geschichten sind am besten in der Stille bewahrt.“

Weber blieb vor einem besonders massiven Regal aus dunkler Eiche stehen und zeigte auf einen Stapel Bücher, die darauf warteten, restauriert zu werden. „Hier beginnen Sie. Diese Manuskripte sind von unschätzbarem Wert. Sie stammen aus dem 12. Jahrhundert, und einige davon erzählen von… nun ja, sagen wir, regionalen Mythen. Sie werden feststellen, dass Historisches und Fiktion oft nahe beieinanderliegen.“

Sophie lächelte schwach. „Das macht es umso spannender, finde ich. Oft steckt die Wahrheit in den Geschichten, die wir für Märchen halten.“

Ein ungewöhnlich scharfes Funkeln trat in Webers Augen, als er sie ansah. „Ein interessanter Gedanke. Doch manche Wahrheiten sind besser verborgen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging mit schnellen, gemessenen Schritten davon.

Sophie ließ ihren Blick über die Bücher schweifen, die vor ihr lagen. Ihre Finger glitten vorsichtig über den Einband eines besonders alten Manuskripts, dessen lederner Umschlag vom Zahn der Zeit zerfressen war. Der Titel war in lateinischer Schrift eingeprägt, doch die Buchstaben waren kaum noch lesbar. Während sie das Buch öffnete und die verblassten Seiten betrachtete, fiel ihr ein handschriftlicher Randvermerk ins Auge: „Lunam argentum et vincula animae.“ Silberner Mond und die Fesseln der Seele. Die Worte hinterließen ein seltsames Echo in ihrem Inneren, etwas vage Vertrautes, das sie nicht greifen konnte.

Doch noch während sie mit der ersten Arbeit begann – vorsichtig die fragile Bindung untersuchend –, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Es war nicht klar, was genau diese Empfindung auslöste. Vielleicht war es die schiere Größe der Halle oder die Art, wie das Licht durch die Fenster fiel und sich die Schatten bewegten. Vielleicht aber auch das leise Rascheln, das sie nicht zuordnen konnte. Sie drehte sich um und blickte in die leeren Gänge der Bibliothek. Nichts. Nur die Stille und die Bücher, die wie stumme Wächter schienen.

Mit einem Kopfschütteln wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Doch das Gefühl wich nicht. Es war, als würde der Raum selbst atmen, flüstern, sich bewegen. Und dann, ganz plötzlich, war da ein leises Geräusch – ein fast unmerkliches Kratzen, wie wenn eine Feder über Papier fährt. Sophie hielt inne und sah sich erneut um. Das Geräusch verstummte, und wieder war nur die Stille zu hören. Sie musste sich eingestehen, dass ihr Herz schneller schlug.

„Nur deine Fantasie“, murmelte sie sich selbst zu und fuhr mit der Untersuchung des Manuskripts fort. Doch innerlich konnte sie die Unruhe nicht abschütteln.

Gegen Mittag beschloss sie, eine Pause einzulegen und einen kleinen Rundgang durch die Bibliothek zu machen. Es war ein impulsiver Entschluss, getrieben von Neugier und vielleicht einem unbewussten Bedürfnis, die Stimmung dieses Ortes zu ergründen.

Die Regale schienen endlos, ihre Schatten lang und tief. Einige Bereiche waren mit schweren Vorhängen abgetrennt, andere durch kunstvoll verzierte Gitter versperrt. Sie blieb vor einem solchen Vorhang stehen, der aus samtenem Stoff bestand und leicht im Luftzug schwankte. Dahinter lag ein Bereich, der von der Dunkelheit verschluckt wurde.

Unwillkürlich trat Sophie einen Schritt näher. Sie wusste, dass das nicht erlaubt war, doch etwas in ihr drängte sie dazu. Es war, als würde der Raum sie rufen. Ihre Hand hob sich, fast von selbst, und sie fuhr mit den Fingern über den Rand des Vorhangs.

„Frau Keller.“

Die Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie wandte sich um und sah Dr. Weber, der sie aus der Entfernung beobachtete. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Haltung wirkte angespannt, fast wachsam.

„Ich hoffe, Sie finden sich gut zurecht“, sagte er, doch die Untertöne seiner Worte waren unmissverständlich. Es war keine Frage, sondern eine Warnung.

Sophie nickte hastig. „Ja, natürlich. Ich wollte nur...“ – sie zögerte und entschied sich dann für die Wahrheit – „... mir ein Bild von der Bibliothek machen. Es ist ein faszinierender Ort.“

Weber trat näher, sein Blick durchdringend. „Das ist es tatsächlich. Und manche Dinge sind faszinierend, weil sie unerforscht bleiben. Ich rate Ihnen, sich daran zu halten.“

Er ließ sie mit diesen Worten stehen und entfernte sich wieder, doch Sophie fühlte, wie die Schwere seiner Worte sie noch eine Weile begleitete. Der Rest des Tages verlief ruhiger, doch die Begegnung ließ sie nicht los. Was genau wollte er verbergen?

Als sie abends die Bibliothek verließ, hatte sich der Himmel in ein tiefes Grau verwandelt, und der Wind hatte aufgefrischt. Sophie zog ihren Mantel enger um sich und beschleunigte ihre Schritte. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, wich nicht. Die Geschichten, die sie am Morgen im Gasthof gehört hatte, mischten sich mit den Eindrücken des Tages und hinterließen ein seltsames, schwer zu definierendes Gefühl.

In einer dunklen Ecke der Bibliothek, die sie im Vorbeigehen gesehen hatte, hatte ein Schatten gelegen – oder war es nur eine Laune des Lichts gewesen? Sie konnte es nicht sagen, doch die Erinnerung ließ sie frösteln.

Sie blieb stehen und blickte über ihre Schulter. Die Straße war leer. Kein Mensch war zu sehen, nur die Schatten der alten Gebäude und die flackernden Lichter der Laternen. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass etwas da war – verborgen, aber wachsam.

Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder nach vorn. Sie konnte sich nicht erlauben, sich von ihrer Fantasie leiten zu lassen. Schließlich war sie hier, um zu arbeiten, nicht, um alten Mythen nachzugehen.

Doch als sie in der Ferne den Bodensee erblickte – dunkel und still, sein Wasser wie eine spiegelnde Fläche aus Tinte –, fragte sie sich, ob es vielleicht doch mehr gab. Ob die Legenden, die sie gehört hatte, vielleicht mehr als nur Geschichten waren. Und ob sie, ohne es zu wollen, bereits Teil von etwas geworden war, das sie nicht verstand.