Kapitel 3 — Die verborgene Schatulle
Sophie
Die Nachmittagssonne warf ein gedämpftes Licht durch die bleiverglasten Fenster der Bibliothek, das die endlosen Reihen alter Regale in einen goldenen Schimmer tauchte. Sophie saß an einem der Eichentische und vertiefte sich in die Restaurierung eines Manuskripts, dessen bröckelnder Einband wie ein Fragment aus einer längst vergangenen Zeit wirkte. Ihre Finger waren mit feinem Papierstaub bedeckt, und die ruhigen, präzisen Handbewegungen ihrer Arbeit schienen ihren Atem gleichmäßiger werden zu lassen. Dennoch schwirrte das Gefühl von Dr. Webers strenger Warnung in ihrem Hinterkopf — es war, als hätte er sie durch seine Worte in einem unsichtbaren Netz aus Argwohn und Geheimnissen gefangen.
Ein leises Geräusch riss sie aus ihrer Konzentration. Es klang wie ein Kratzen, irgendwo in der Ferne, kaum wahrnehmbar, und doch nagte es an ihrer Aufmerksamkeit. Sophie warf einen Blick über die Schulter, doch die Bibliothek lag still da. Nur das entfernte Rascheln von Papier und das gelegentliche Knarren der Dielen begleiteten die Atmosphäre. Doch das Kratzen blieb in ihrem Bewusstsein haften, wie ein einsamer Gedanke, den man nicht abschütteln kann.
Mit einem Seufzen beschloss Sophie, ihre Arbeit für einen Moment zu unterbrechen. Sie streckte sich, um die Spannung aus ihrem Körper zu lösen, und ließ ihren Blick durch die Halle schweifen. Ihre Augen blieben an einem besonders massiven Regal in einer der abgelegeneren Ecken hängen. Es war eines der ältesten hier, seine Holzmaserung gezeichnet von der Zeit, und die schweren Bände, die es trug, schienen seit Ewigkeiten unangetastet. Ein schmaler Lichtstrahl fiel durch ein hohes Fenster und brach sich an den staubigen Oberflächen der Bücher, die wie ein lockender Glanz wirkten. Für einen Moment schien es, als würde das Licht direkt auf einen Punkt hinter den Büchern deuten.
Ein unerklärliches Ziehen regte sich in ihr, ein Drang, den sie nicht benennen konnte. Ihre praktischen, analytischen Gedanken meldeten sich: Es war kein Zufall, dass sie sich zu diesem Regal hingezogen fühlte. Vielleicht war es die Neugier auf verborgene Geschichten, die in den unberührten Bänden schlummerten. Oder war es etwas Tieferes, Dunkleres, das sie aus ihrer eigenen Mitte heraustrieb?
Ihre Schritte waren leise, fast zögerlich, als sie sich dem Regal näherte. Das Knarzen der Holzdielen unter ihren Füßen klang wie ein heimliches Flüstern. Je näher sie kam, desto stärker wurde das Gefühl, dass etwas in diesem Regal auf sie wartete — oder dass sie dorthin geführt wurde.
Sophie kniete sich hin, um die unterste Regalebene zu untersuchen. Die Luft hier fühlte sich schwerer an, kühler, als hätte die Zeit diesen Bereich nie wirklich durchdrungen. Vorsichtig zog sie ein paar der verstaubten Bücher heraus, jedes mit einer Bewegung, die sowohl entschlossen als auch zögernd war. Hinter den Büchern kam das dunkle Holz des Regals zum Vorschein, doch etwas daran war nicht wie erwartet. Ein einzelnes Brett stand leicht hervor, als hinge es nur lose in seiner Fassung. Unwillkürlich hielt Sophie den Atem an.
Ein leises Flackern eines Schattens im Augenwinkel ließ sie für einen Moment innehalten. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, doch die Halle war leer. Dennoch konnte sie das beklemmende Gefühl nicht abschütteln, dass sie nicht allein war.
Mit zitternden Fingern berührte Sophie das lose Brett. Es reagierte sofort auf ihren Druck und ließ sich mit einem dumpfen, widerstrebenden Geräusch zur Seite schieben. Dahinter verbarg sich eine kleine Schatulle, umgeben von feinen Spinnweben und einem Hauch von altertümlichem Staub. Ihr Herz schlug schneller, ein rhythmisches Echo ihrer aufkeimenden Neugier und der unterschwelligen Angst.
Die Schatulle war aus dunklem Holz gefertigt, schlicht, aber mit Gravuren auf dem Deckel, die sofort ihre Aufmerksamkeit fesselten: ein Halbmond, umgeben von geschwungenen Linien, die wie Wellen oder Flammen wirkten. Die Symbolik rief eine seltsame Resonanz in ihr hervor, eine Art Déjà-vu, als hätte sie dieses Zeichen schon einmal gesehen, vielleicht in einem Traum oder einer längst vergessenen Erinnerung.
Sophie zog die Schatulle vorsichtig hervor und setzte sie auf ihren Schoß. Ihr Verstand warnte sie, dass sie diese Entdeckung melden sollte, dass Dr. Weber sie sicher zurechtweisen würde, wenn er von ihrem Fund erfuhr. Doch ihre Neugier war stärker. Sie musste wissen, was darin verborgen war. Vielleicht war es auch die leise Ahnung, dass dieser Fund irgendwie mit ihr selbst verbunden war.
Mit einem leichten Knarren öffnete sie den Deckel. Ein eigentümlicher Duft stieg ihr in die Nase, eine Mischung aus altem Holz und etwas Metallischem. Im Inneren lag ein silberner Anhänger, filigran gearbeitet, mit einer unbestreitbaren Schwere, die seine Bedeutung verriet. Der Anhänger hatte die Form eines Halbmonds, ähnlich dem Symbol auf der Schatulle, und war mit komplexen Gravuren überzogen, die wie Runen oder eine unbekannte Schrift wirkten.
Als Sophie ihn berührte, durchzuckte sie ein Gefühl, als hätte eine unsichtbare Kraft ihren Körper durchströmt. Wärme und ein seltsames, vibrierendes Pulsieren erfüllten sie. Es war, als würde der Anhänger einen Teil von ihr berühren, den sie bislang nicht kannte. Ihr Atem stockte, und die Welt um sie herum schien für einen Moment stillzustehen.
Dann kam das Wispern. Zuerst leise, kaum wahrnehmbar, doch es wurde intensiver und schien aus den Wänden selbst zu kommen. Worte, unvollständig und fremd, drangen an ihr Ohr: „...luna... anima...“ Sie konnte sie nicht verstehen, doch sie fühlte ihre Bedeutung tief in sich widerhallen.
Mit klopfendem Herzen hob Sophie den Anhänger aus der Schatulle und hielt ihn ins Licht. Die Gravuren warfen seltsame Schatten auf ihre Hand, und ein scharfer, flüchtiger Gedanke durchzuckte sie: Dieses Artefakt war alt, sehr alt. Und bedeutungsvoller, als sie sich je hätte vorstellen können.
Ein plötzlicher Schwindel überkam sie, und Bilder durchfluteten ihren Geist. Wälder bei Nacht, Wölfe mit Augen wie Sterne, ein Steinkreis, der im Mondlicht leuchtete. Ein unverständlicher Gesang drang in ihre Ohren, fremd, aber seltsam vertraut. Sophie klammerte sich an die Kante des Regals, um nicht zu Boden zu sinken, und spürte, wie die Visionen verschwanden, nur um ein flüsterndes Echo in ihrem Kopf zurückzulassen.
„Was ist das...?“ flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. Ihre Hände zitterten, und sie fühlte die Kälte des Silbers gegen ihre Haut, als sie den Anhänger hielt. Ein Teil von ihr wollte ihn sofort zurücklegen. Doch ein anderer, stärkerer Teil wusste, dass sie dies nicht tun konnte.
Sophie setzte den Anhänger um ihren Hals, fast ohne es bewusst zu wollen. Als das kalte Metall ihre Haut berührte, durchströmte sie eine neue Welle von Visionen, intensiver und klarer als zuvor. Sie fühlte eine tiefe Verbindung, als hätte sie ungewollt einen Teil von etwas Größerem geweckt.
Ein Geräusch hinter ihr ließ sie erstarren. Es klang wie Schritte, doch als sie sich umdrehte, war niemand dort. Die Schatten zwischen den Regalen schienen dichter, lebendiger. Sophie schluckte, zwang sich, tief durchzuatmen, und schob die Schatulle hastig zurück in ihr Versteck. Der Anhänger lag wie ein Gewicht in ihrer Tasche, seine Präsenz unausweichlich.
Als sie sich von der Regalreihe entfernte, fühlte sie sich verändert. Etwas war wachgerüttelt, sowohl in der Bibliothek als auch in ihr selbst. Der Anhänger war mehr als nur ein Fund — er war ein Schlüssel. Und Sophie wusste, dass sie herausfinden musste, was er öffnete, egal, wohin es sie führen würde.