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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Ketten und Versprechen


Runa

Die Hitze des Morgens legte sich wie eine schwere Decke über die staubigen Hügel, während die Ketten um Runas Handgelenke bei jedem Schritt in die Haut schnitten. Trotz der sengenden Sonne schien die Kälte des Metalls nicht nachzulassen, als ob sie sich tief in ihre Knochen gegraben hätte. Jeder ihrer Schritte war begleitet vom Scharren der schweren Eisenfesseln und dem rhythmischen Knirschen der Stiefel der Legionäre, die die Gefangenen bewachten. Der Schmerz in ihrem Herzen über den Verlust ihres Bruders Hagar war zu frisch, zu allgegenwärtig. Es war ein Schmerz, der sie fast lähmte, doch sie zwang sich, ihren Rücken gerade zu halten und den Blick nach vorne zu richten. Sie würde sich nicht brechen lassen. Nicht heute. Nicht jemals.

Die lange Reihe der Gefangenen zog sich wie eine dunkle Schlange über den Weg, Männer und Frauen, verletzt und erschöpft, stützten einander oder taumelten alleine vorwärts. Die Kommandos der Römer zerschnitten die Luft wie Peitschenhiebe. Einige der Gefangenen wagten einen flüchtigen Blick auf die Soldaten, doch die meisten hielten die Augen gesenkt. Runa jedoch hielt ihren Kopf erhoben, auch wenn ihre Schultern unter der Last zu brechen drohten. Sie konnte und wollte nicht anders. Es war eine Lektion ihres Vaters: „Selbst wenn du am Boden bist, Runa, halte den Kopf hoch. Es ist ein Zeichen der Stärke.“

Ein Mann, gehüllt in eine schmutzige Tunika, drängte sich näher an sie heran. Er war älter, seine Pergamenthaut von tiefen Falten durchzogen, und seine Augen schimmerten trotz der Schwere der Situation mit einer seltsamen Lebendigkeit. Runa bemerkte ihn erst, als er mit rauer, aber freundlicher Stimme sprach: „Du bist zu stolz, junge Frau. Der Stolz ist eine Waffe, aber auch ein Schild. Und die Römer werden beides brechen wollen.“

Runa warf ihm nur einen kurzen, kühlen Blick zu. „Ich habe nichts zu verbergen.“ Ihre Worte klangen scharf, wie eine Klinge, und doch spürte sie die Bitterkeit in ihrer eigenen Stimme. Ihr Akzent ließ keinen Zweifel an ihrer Herkunft.

Der Mann lachte trocken, ein Laut, der zwischen Belustigung und Tragik schwankte. „Vielleicht nicht. Aber du wirst lernen müssen, wie man überlebt. Rom ist eine Stadt aus Schatten und Masken, und wer sie nicht durchschaut, wird verschlungen.“

Runa hielt inne und musterte ihn eingehender. Seine Worte waren durchzogen von Erfahrung und Vorsicht, doch etwas an ihm ließ sie zögern. „Und was schlägst du vor, alter Mann?“ Ihre Stimme war leiser, aber von einer kalten Entschlossenheit durchzogen.

Er zuckte mit den Schultern. „Beobachte. Lerne. Zeige nicht zu viel von dir, bevor du weißt, wer dein Feind ist. Oder dein Freund.“ Seine Augen ruhten auf ihr, prüfend und doch ohne die Verachtung, die sie bei den Römern spürte. „Ich bin Marcus. Und du?“

„Runa“, entgegnete sie knapp, ohne den Blick abzuwenden. Überlebenslehren von einem Mann, der selbst in Ketten lag? Der Gedanke ließ sie innerlich schnauben, doch sie sagte nichts.

„Ein Name wie ein Sturm“, murmelte Marcus, als würde er ihren Wert auf einer inneren Waage abwägen.

Ein scharfer Befehl riss sie aus der Unterhaltung. „Vorwärts! Kein Getrödel!“ Ein Soldat mit einem narbenübersäten Gesicht trat näher und ließ die Peitsche drohend durch die Luft knallen. Die Gefangenen setzten sich hastig in Bewegung, und Runa spürte Marcus’ Anwesenheit hinter ihr, sagte jedoch kein Wort mehr.

Die Stunden vergingen, und mit jedem Schritt brannte die Hitze stärker. Runa zwang ihren Verstand, wachsam zu bleiben. Sie studierte die Landschaft: die sanften Hügel, die von Olivenbäumen und Zypressen gesäumt waren, die Positionen der Soldaten, die Abstände zwischen den Legionären. In ihren Gedanken hallte die Stimme ihres Vaters wider: „Jede Schwachstelle, Runa, ist ein Pfad zur Freiheit.“ Sie bemerkte, dass einer der jüngeren Soldaten nachlässig seinen Helm trug, während ein anderer häufiger als die anderen nach Wasser griff. Es waren winzige Details, doch sie speicherte sie ab, wie ein Jäger, der seine Beute studiert.

Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreichte, hielten die Römer in einem Hain, dessen Schatten die Gefangenen kurz vor der schieren Erschöpfung bewahrte. Die Luft war erfüllt vom Rascheln der Blätter und dem Murmeln der Legionäre. Die Gefangenen wurden zusammengedrängt, und jeder erhielt ein Stück hartes Brot und ein Schluck Wasser. Runa setzte sich auf den staubigen Boden und biss mechanisch in das Brot, das trocken und geschmacklos war, wie Asche in ihrem Mund.

Marcus ließ sich neben ihr nieder und knabberte an seinem eigenen Stück Brot. „Römisches Brot“, murmelte er sarkastisch. „Hart genug, um jemanden zu erschlagen, wenn du es richtig wirfst.“

Runa ignorierte seinen Versuch, die Situation aufzulockern, und beobachtete stattdessen die Soldaten. Einer von ihnen, mit strengen Gesichtszügen und einem Helm, der seine Rolle als Offizier markierte, blieb ihr besonders im Gedächtnis. Sein Blick glitt über die Gefangenen, verweilte aber immer wieder auf ihr. Es war kein Blick, der sie verspottete oder verächtlich machte. Es war, als würde er sie studieren, als wäre sie ein Rätsel, das es zu entschlüsseln galt.

„Decimus“, flüsterte Marcus, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Ein ehrgeiziger Mann, dieser Offizier. Ehrgeiz ist in Rom gefährlich.“

Runa begegnete dem Blick des Offiziers mit unbeugsamer Härte, auch wenn ihr Herz für einen Moment schneller schlug. Warum beobachtete er sie? Wollte er sie brechen, wie Marcus gesagt hatte, oder hatte er andere Pläne? Der Gedanke löste Unbehagen und Wut in ihr aus. Sie zwang sich, ihren Kopf noch höher zu halten.

Als der Marsch wieder begann, fühlte sie Decimus’ Blick mehrmals auf sich lasten. Diese stumme Verbindung zwischen ihnen war wie ein stilles Duell, das keiner von ihnen offen zugab. Doch Runa schwor sich, dass sie nicht diejenige sein würde, die zuerst nachgab.

Beim nächsten Halt, als die Sonne bereits tief am Horizont stand, waren die Gefangenen erschöpft. Der Marsch hatte die meisten von ihnen an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Marcus setzte sich erneut neben Runa, während der Rest der Gruppe still vor sich hin dämmerte.

„Du planst etwas, nicht wahr?“ fragte Marcus leise, kaum mehr als ein Flüstern.

Runa zögerte, bevor sie antwortete. „Und wenn? Würdest du es verraten?“

Er schüttelte langsam den Kopf, ein Lächeln spielte auf seinen Lippen. „Ich würde es eher bewundern. Aber Flucht ist ein Spiel mit dem Tod. Die Römer… sie sind geduldig. Ihre Netze reichen weit.“

„Und doch gibt es Wege?“ Ihre Stimme trug den Hauch von Hoffnung, auch wenn sie es nicht zugeben wollte.

„Vielleicht“, sagte er, nachdenklich die Schatten studierend, die sich unter den Bäumen sammelten. „Aber der Preis ist hoch.“

Runa schnaubte leise. „Ich habe bereits alles verloren. Was könnte ich mehr verlieren?“

Marcus musterte sie mit einem gemischten Ausdruck aus Respekt und Bedauern. „Dann beobachte weiter, junge Sturmfrau. Deine Zeit wird kommen. Aber vertraue nicht jedem. Nicht jeder, der freundlich erscheint, ist ein Freund.“

Als die Nacht hereinbrach und die Gefangenen sich auf dem harten Boden niederließen, starrte Runa in den sternenlosen Himmel. Marcus’ Worte hallten in ihrem Kopf wider, doch sie wusste nicht, ob sie ihm vertrauen konnte. War er ein Verbündeter oder eine Falle? Ihre Gedanken kehrten zu Hagar zurück, zu seinem Lächeln und seiner unerschütterlichen Stärke. Sie konnte ihn nicht enttäuschen. Sie würde nicht brechen. Nicht hier, nicht heute. Und sicher nicht in Ketten.