Kapitel 3 — Die Stadt aus Marmor
Runa
Der Duft von brennendem Harz und schwelendem Holz war noch in Runas Nase, als die erste Silhouette der Stadt in der Ferne erschien. Die Mauern Roms stiegen wie ein undurchdringlicher Wall vor ihr auf, golden schimmernd in der untergehenden Sonne. Für einen Moment war sie überwältigt von der Größe der Stadt, die sich wie ein schlafender Drache hinter den Toren erstreckte. Doch bald wich der erste Eindruck wieder der kalten Klarheit ihres Verstandes. Dies war keine Stadt, die sie bewundern wollte. Es war eine Festung der Unterdrücker, ein goldener Käfig, der sie von ihrer Heimat trennte.
Die Ketten an ihren Handgelenken klirrten leise, als der Zug der Gefangenen über die holprigen Straßen weitergeschoben wurde. Die schmalen Gassen, die sie durchquerten, waren gesäumt von verfallenen Gebäuden, in deren Schatten Kinder mit schmutzigen Gesichtern saßen und sie aus großen, hungrigen Augen anstarrten. Andere römische Bürger, von Händlern bis zu betrunkenen Soldaten, warfen ihnen flüchtige Blicke zu, manche mit Neugier, andere mit Verachtung.
Runa zwang sich, den Blick gerade zu halten, obwohl sie die unerbittlichen Blicke der Römer auf ihrer Haut spüren konnte. Die Worte ihres Vaters hallten in ihrem Geist wider: „Nimm nie eine Position der Schwäche ein. Deine Würde ist dein Schild.“ Sie wiederholte diesen Satz innerlich wie ein Mantra, während sie das Chaos und die Armut der Straßen betrachtete. Der Gedanke an ihr Heimatdorf stieg in ihr auf – der Geruch von Kiefern, die Stimmen ihres Volkes, das heitere Lachen. Es war wie eine Flamme, die in ihr brannte und sie trotz der Kälte um sie herum wärmte.
Die Hitze des Tages hatte nachgelassen, doch die Luft war immer noch schwer, erfüllt von den Gerüchen der Stadt: tierischem Dung, gekochtem Fleisch, dem rauchigen Aroma von Gewürzen. Runa schluckte die Übelkeit hinunter, die sich in ihrem Magen regte. Sie ließ ihren Blick durch die Straßen gleiten und bemerkte die präzisen Bewegungen der römischen Soldaten, die den Zug bewachten. Ihre Augen folgten dem Rhythmus ihrer Schritte, der Art, wie sie ihre Speere hielten, und wie sie unbewusst ihre Umgebung scannten. Die Effizienz ihrer Disziplin war beängstigend, aber auch lehrreich. Runa speicherte jedes Detail ab, genau wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte – ein Krieger lernt, indem er beobachtet.
Der Zug verlangsamte sich, und sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Die Geräusche der Menge, das Fluchen von Händlern und das Geklirr von Töpfen, verblassten allmählich, während die Straßen breiter wurden. Die Gebäude erhoben sich majestätischer, die Fassaden aus Marmor glänzten im goldenen Licht. Die Menschen, die hier flanierten, waren anders gekleidet – ihre Tuniken aus feiner Seide, ihre Haare kunstvoll frisiert. Die Straßen des Armenviertels hatten sie hinter sich gelassen, und nun näherten sie sich dem Herzen der Stadt – dem Ort, der Macht und Dekadenz ausstrahlte.
Schließlich erreichten sie ein großes Tor aus schwerem, dunkel geädertem Holz, flankiert von zwei Wachen, die mit entschlossenem Blick die Ankunft des Zuges beobachteten. Runa spürte das Gewicht ihrer Fesseln stärker denn je, als sie durch das Tor in einen Innenhof geführt wurde, der in kühles, goldenes Licht getaucht war.
Vor ihnen erstreckte sich eine prächtige Villa, ihre weißen Marmorsäulen hoch aufragend, fast einschüchternd in ihrer makellosen Perfektion. Die Wände waren mit kunstvollen Fresken bemalt, die Szenen von Triumphzügen und opulenten Feierlichkeiten zeigten. In der Mitte des Hofes plätscherte ein Brunnen, dessen Wasser in einem hypnotischen Rhythmus herabfiel. Runa blieb einen Moment stehen und betrachtete das frische, klare Wasser, das in einem schimmernden Bogen fiel. Es wirkte wie eine Beleidigung, wenn sie an die brennenden Felder ihres Dorfes dachte. Der Kontrast zwischen der Fülle hier und der Asche ihrer Heimat war wie ein Dolchstoß in ihre Brust.
„Willkommen in meinem bescheidenen Zuhause,“ erklang eine weibliche Stimme, weich und doch scharf wie Stahl. Runa hob den Kopf und sah eine Frau, die die Treppen der Villa hinunterstieg. Sie trug ein schimmerndes Kleid in tiefem Smaragdgrün, das ihre schlanke Figur betonte, und ihre dunklen Haare waren in einem kunstvollen Knoten gesteckt. Ihre Augen – smaragdgrün wie ihr Kleid – musterten Runa mit einer Mischung aus Neugier und amüsiertem Triumph.
„Tullia Scribona“, flüsterte Marcus, der hinter Runa ging. Seine Stimme war so leise, dass nur sie es hören konnte. „Die Herrin dieses Hauses. Hüte dich vor ihr. Diese Frau ist wie ein Schatten – immer da, selbst wenn du sie nicht siehst.“
Runa hielt Tullias Blick stand, selbst als ein kalter Schauer ihre Wirbelsäule hinablief. Die Römerin lächelte, doch es war kein freundliches Lächeln. Es war das Lächeln eines Raubvogels, der seine Beute studierte.
„Also, das ist die berühmte Germanin, von der Decimus gesprochen hat,“ sagte Tullia, während sie auf Runa zutrat. „Man hat mir gesagt, du seist wild, ungezähmt. Ich hoffe, du wirst eine Bereicherung für unser Heim sein – es wäre so bedauerlich, wenn du enttäuschst.“
Runa erwiderte nichts, doch ihr Blick sprach Bände. Sie würde sich nicht von dieser Frau einschüchtern lassen, ganz gleich, was sie plante.
Tullias Lächeln wurde breiter, als hätte sie genau das erwartet. „Nun, wir werden sehen, was du wirklich bist. Ich habe großes Interesse an außergewöhnlichen Menschen. Und du, meine Liebe, scheinst außergewöhnlich zu sein.“
Die Soldaten lösten die Ketten, die Runa an den Rest der Gefangenen banden, doch ihre Handfesseln blieben. Zwei Dienerinnen traten vor und warteten, bis Tullia mit einer knappen Geste befahl, Runa hineinzuführen.
Die Villa war innen noch prächtiger als außen. Die Marmorböden waren mit aufwendigen Mosaiken bedeckt, die Szenen aus der römischen Mythologie darstellten, und die Wände waren mit goldgerahmten Fresken geschmückt. Überall spürte Runa die Kühle des Marmors unter ihren bloßen Füßen. Die kunstvolle Ordnung und der Reichtum dieses Ortes schienen sie zu erdrücken, wie ein unsichtbares Netz, das sich um sie legte.
„Du wirst dich schnell an die Annehmlichkeiten gewöhnen,“ sagte Tullia, während sie Runa durch die Flure führte. Ihr Ton war honigsüß, doch Runa spürte die Kälte dahinter. „Und ich hoffe, du wirst mir keine Schwierigkeiten machen. Es wäre doch schade, dieses hübsche Gesicht zu ruinieren.“
Runa biss die Zähne zusammen, um nicht zu antworten. Sie wusste, dass jede Reaktion Tullia nur Vergnügen bereiten würde.
In einem großen Saal, der von Licht durchflutet war, das durch hohe Fenster fiel, wartete ein Mann mit strengem Gesicht und grauem Haar. Seine Haltung war die eines Kommandanten, und seine Augen musterten Runa wie ein General, der das Schlachtfeld analysierte.
„Gnaeus Cornelius Scribonius“, sagte Tullia mit einem Lächeln. „Mein lieber Gatte und der Herr dieses Hauses.“
Der Senator nickte knapp, ohne Tullias Worte zu kommentieren. Seine Stimme war tief und autoritär, als er sprach: „Was ist dein Name?“
„Runa“, antwortete sie, ihre Stimme klar und fest.
„Runa,“ wiederholte er, als würde er den Klang des Namens abwägen. „Du bist jetzt Gast in meinem Haus. Aber vergiss nicht, dass Gastfreundschaft in Rom von Gehorsam abhängt. Hier bist du nicht frei – und Freiheit ist ein Privileg, kein Recht.“
„Ich vergesse nichts,“ erwiderte Runa kühl, und Scribonius' Augen verengten sich leicht.
„Das werden wir sehen,“ sagte er schließlich. Dann wandte er sich ab und verschwand durch eine Tür, ohne ein weiteres Wort.
Tullia klatschte in die Hände, als hätte sie gerade eine Aufführung genossen. „Nun, das war... unterhaltsam. Komm, meine Liebe, ich werde dir deine Gemächer zeigen.“
Runa folgte Tullia schweigend, während sie innerlich die Lage analysierte. Tullia war gefährlich, das spürte sie. Aber Scribonius... Er war noch gefährlicher. Seine Worte hatten in ihrer Schlichtheit etwas Endgültiges. Und dieser Ort war ein Schlachtfeld, auch wenn es nicht nach Blut roch.
Sie würde ihre Zeit abwarten. Und sie würde nicht vergessen, warum sie hier war.