reader.chapter — Unheilvolle Warnungen
Wechsel zwischen Isa Wagner und Alexej Markov
Die Morgensonne kämpfte sich durch die Hamburger Wolkendecke, ein blasses, kaltes Licht, das die Straßen in einen grauen Schleier tauchte. Isa Wagner betrat die Kanzlei mit einem mulmigen Gefühl, das sie nicht abschütteln konnte. Die Ereignisse der letzten Nacht brannten noch immer in ihrem Kopf – der anonyme Informant, der Schuss, die panische Flucht durch den Hafen. Sie hatte kaum geschlafen, und der dünne Schleier von Müdigkeit schien ihre Wahrnehmung noch schärfer zu machen.
Der Empfangsbereich der Kanzlei war wie immer makellos, doch heute schien etwas anders. Das leise Klacken von Absätzen auf dem Marmorboden schien Isa unnatürlich laut, beinahe störend. Ihre Kollegen, die sonst mit einem kurzen Nicken oder einem professionellen Lächeln grüßten, schienen sie bewusst zu meiden. Isa spürte die Blicke in ihrem Rücken, wie kleine Nadeln, die sich in ihre Haut bohrten. Gespräche verstummten abrupt, wenn sie einen Raum betrat, und die Luft schien von unausgesprochenen Spannungen zu vibrieren. Einmal überlegte sie, jemanden direkt darauf anzusprechen, aber der Gedanke verflog, als sie die gesenkten Augen und nervösen Bewegungen bemerkte.
Als sie ihr Büro erreichte, stockte ihr der Atem. Auf ihrem Schreibtisch lag ein kleiner, unscheinbarer Umschlag. Kein Absender, keine Hinweise. Er wirkte fast harmlos, doch Isa wusste es besser. Die Luft schien sich zu verdichten, während sie ihre Handschuhe auszog und den Umschlag vorsichtig öffnete.
Darin befand sich ein einzelnes Blatt Papier.
„Hör auf zu graben, sonst wirst du begraben.“
Die Drohung war handgeschrieben, mit einer schwarzen Tinte, die schwer zu identifizieren war. Isa spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Ihre Finger schlossen sich unwillkürlich um das Papier, während sie sich langsam in ihrem Stuhl niederließ. Die Worte pochten in ihrem Kopf wie eine wiederkehrende Warnung.
Kurz ließ sie ihren Blick durch das Büro schweifen. Wer hatte den Umschlag hier platziert? Die Kanzlei hatte Videoüberwachung, doch Isa wusste, dass sich hier viele mit genügend Macht und Einfluss bewegten, um solche Hindernisse zu umgehen. Die Drohung fühlte sich wie eine Warnung an, dass sie hier nicht länger sicher war. Sie atmete flach und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, aber die Erkenntnis ließ sie nicht los: Jemand in ihrem Umfeld könnte Teil dessen sein, was sie zu enthüllen versuchte.
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Im Penthouse von Alexej Markov herrschte eine eigentümliche Ruhe. Der Mann, der es gewohnt war, in einer Welt aus Chaos und Kontrolle zu leben, stand am Fenster und betrachtete die Stadt unter sich. Hamburg wirkte von hier oben fast friedlich. Das Licht der Morgensonne spiegelte sich in den Glasfassaden der Hochhäuser, und die Bewegung des Hafens schien gemächlich und harmonisch. Doch Alexej wusste es besser.
Sein Handy vibrierte leise auf dem glänzenden Holztisch. Er nahm es, ohne seinen Blick von der Aussicht abzuwenden. Sergejs Nachricht war knapp, wie immer: „Ziel entkommen. Überwachung eingerichtet.“
Alexej ließ das Gerät sinken und lächelte kaum merklich. Isa Wagner war eine interessante Frau. Seine Männer hatten berichtet, dass sie bemerkenswert schnell reagiert hatte, beinahe wie jemand, der an Gefahr gewöhnt war. Sie hatte sich nicht in die Enge treiben lassen, hatte instinktiv ihre Umgebung genutzt, um zu entkommen.
„Sergej.“ Seine Stimme war ruhig, doch der Mann, der in den Raum trat, wusste, dass Alexej keine Nachlässigkeit duldete.
„Ja, Boss?“
„Haltet sie im Auge. Ich will jede Bewegung überwacht wissen. Aber keine weiteren Angriffe. Noch nicht.“ Alexej drehte sich schließlich um und sah Sergej direkt an. „Ich will wissen, wer hinter ihr steckt – und was sie wirklich will.“
Sergej nickte knapp. „Verstanden.“
Alexej ließ ihn mit einer Handbewegung gehen. Seine eisblauen Augen wanderten zurück zur Stadt. Isa Wagner war entweder unglaublich mutig oder unverzeihlich töricht. Aber vielleicht, dachte er, war sie auch etwas anderes – jemand, der die gewöhnlichen Regeln nicht befolgte. Eine Frau, die ihn reizte, weil sie sich nicht einschüchtern ließ. Doch das machte sie auch gefährlich. Und er hatte sie im Blick.
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Isa saß in einem Café in einem abgelegenen Teil der Stadt, weit weg von der Kanzlei und ihrem Apartment. Ihr Atem hing wie ein Schleier über der dampfenden Tasse Kaffee, die sie in den Händen hielt. Gegenüber von ihr saß Lena Müller, ihre langjährige Studienfreundin und eine der wenigen Personen, denen Isa noch vertraute.
„Lena, das hier ist größer, als ich dachte“, begann Isa und beugte sich leicht vor. Ihre Stimme war ein Flüstern, trotz der spärlichen Anzahl an Gästen um sie herum. „Ich habe Namen, Daten – aber ich brauche jemanden, der mir hilft, das zu sichern. Jemanden, der außerhalb des Systems arbeitet.“
Lena, eine scharfsinnige Journalistin mit einem untrüglichen Sinn für Geschichten, sah Isa lange an. Ihre braunen Augen waren voller Besorgnis, doch Isa spürte auch etwas anderes. War es Zweifel?
„Isa…“, begann Lena vorsichtig, „bist du sicher, dass du das noch kontrollieren kannst? Du weißt, wie gefährlich solche Leute sind – und wenn sie schon wissen, dass du nachforschst…“
Isa zögerte. Dann zog sie den Zettel aus ihrer Tasche und schob ihn über den Tisch. „Das hier war heute Morgen auf meinem Schreibtisch.“
Lena las die Worte und schloss kurz die Augen. Ihre Hände zitterten leicht, als sie den Zettel zurückschob. „Verdammt.“ Sie griff nach ihrer Tasse, trank einen Schluck und blickte Isa lange an. „Du spielst mit deinem Leben.“
„Das weiß ich“, entgegnete Isa kühl, doch in ihrer Stimme lag ein Hauch von Verzweiflung. „Aber wenn ich jetzt aufgebe, dann haben sie gewonnen.“
Lena nickte langsam, aber ihre Haltung sprach Bände. Sie wich Isas Blick aus, ihre Finger trommelten nervös auf die Tischplatte. „Ich tue, was ich kann“, sagte sie schließlich, aber die Worte klangen wie ein gehetztes Versprechen.
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Auf dem Weg zurück zu ihrer Wohnung spürte Isa erneut diese kalte Präsenz, die sie seit der Nacht im Hafen verfolgte. Schatten in den Ecken bewegten sich nicht, wo sie es erwartet hätte; das Brummen eines Motors schien ihr länger zu folgen, als es hätte sein sollen. Sie beschleunigte ihre Schritte, die Geräusche der Stadt wurden gedämpft, als ob sie sich in einer eigenen Blase aus Anspannung bewegte.
Vor ihrer Haustür hielt sie inne. Der Schlüssel in ihrer Hand zitterte leicht, als sie die Kratzer an der Tür bemerkte. Sie waren klein, aber frisch – als hätte jemand versucht, das Schloss zu manipulieren. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Isa schluckte schwer. Ihre Finger umklammerten den Schlüsselbund, während sie langsam die Tür öffnete. Der Flur ihrer Wohnung lag im Dunkeln, nur das schwache Licht der Straßenlaternen fiel durch die halbgeschlossenen Jalousien.
Nichts war offensichtlich beschädigt, doch Isa spürte es sofort: Jemand war hier gewesen.
Vorsichtig durchsuchte sie die Räume, jeden Schrank, jede Schublade. Ihre Unterlagen waren durchwühlt, einige Papiere lagen auf dem Boden, die längst in ihrer verschlossenen Schreibtischschublade hätten sein sollen. Ein leeres Glas stand auf ihrem Küchentisch – ein Detail, das ihr Herz schneller schlagen ließ.
„Verdammt“, murmelte sie, während sie die Dokumente aufhob. Ihre Gedanken rasten. Wer auch immer hier gewesen war, hatte nach etwas gesucht – etwas, das sie vielleicht noch nicht einmal selbst vollständig verstanden hatte.
Sie ließ sich auf den Rand ihres Bettes sinken, die Akten gegen ihre Brust gedrückt, während sie in die Dunkelheit starrte. Die Isolation, die sie empfand, war beinahe greifbar. Niemandem konnte sie trauen. Niemandem – außer vielleicht sich selbst.
Doch während sie dort saß, spürte sie die unerschütterliche Gewissheit, dass sie weitermachen musste. Die Drohungen, die Einbrüche – all das bedeutete, dass sie auf dem richtigen Weg war. Und sie würde nicht aufhören, bis sie die Wahrheit gefunden hatte.
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Im Penthouse betrachtete Alexej eine Karte der Stadt, seine Gedanken bei Isa Wagner. Sein Spiel hatte gerade erst begonnen, doch es war klar, dass sie eine formidable Gegnerin war.
Er nahm einen Schluck seines Whiskeys, das Glas in seiner Hand ein Symbol seiner eigenen Kontrolle, und lächelte kühl.
„Mal sehen, wohin das führt, Fräulein Wagner.“