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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Alte Wunden


Hanna/Siv

Der Morgennebel kroch durch die engen Gassen von Skjoldheim, ein stiller, unheimlicher Beobachter, der Hanna an den Schatten ihrer Träume erinnerte. Sie zog ihren wollenen Umhang enger um sich, während der Wind an ihrem Haar zerrte. Ihre Augen waren von Müdigkeit beschwert, und die Last der durchwachten Nacht lag schwer auf ihren Schultern. Die Krankheit der Kinder, die seltsamen Berichte über die Tiere und die unheilvollen Worte ihres Traums – all das formte eine unsichtbare, aber greifbare Bedrohung, die sie nicht abschütteln konnte.

Plötzlich erklang Freydis’ Stimme, scharf und bestimmend: „Siv!“

Hanna drehte sich um und sah ihre Freundin, die mit schnellen Schritten auf sie zukam. Der straffe Zopf ließ Freydis’ entschlossenes Gesicht noch eindringlicher wirken, doch die Besorgnis in ihren Augen ließ sich nicht verbergen. „Die Späher haben einen Fremden entdeckt,“ sagte Freydis atemlos. „Er nähert sich dem Dorf. Ragnar hat die Männer versammelt.“

Ein Knoten bildete sich in Hannas Magen. Ein Fremder? In diesen unsicheren Zeiten war das selten ein gutes Zeichen. „Wo ist Ragnar?“ fragte sie, während sie ihre Schultern straffte.

„Am Dorfeingang.“ Freydis’ Blick musterte sie prüfend. „Du siehst aus, als hättest du kaum geschlafen.“

„Das habe ich nicht,“ gab Hanna zu. „Aber das ist jetzt nicht wichtig.“

Seite an Seite eilten sie durch das Dorf, der feuchte Boden unter ihren Stiefeln gab bei jedem Schritt nach. Auf dem Weg kreisten Hannas Gedanken um die Fremden, die sie in der Vergangenheit getroffen hatten. Jeder einzelne hatte auf die eine oder andere Weise Herausforderungen gebracht, und sie ahnte, dass dieser nicht anders sein würde.

Am Tor war Ragnar bereits mit einer Gruppe Krieger versammelt. Ihre Hände ruhten an den Griffen ihrer Waffen, und ihre Gesichter waren ernst. Der Fremde näherte sich langsam, sein schwerer Mantel umhüllte ihn wie ein schützender Schild. Er zog einen hölzernen Wagen hinter sich her, dessen Räder leise über das Gras knirschten. Als er nahe genug war, hob er eine Hand zum Gruß – ein Lächeln zierte sein Gesicht, doch es erreichte nicht seine Augen.

„Wer bist du, und was suchst du in Skjoldheim?“ Ragnars Stimme war ruhig, aber sie trug eine Kante der Warnung in sich, die nicht überhört werden konnte.

Der Fremde blieb stehen, zog die Kapuze zurück und offenbarte ein kantiges Gesicht. Seine hellblauen Augen schienen jede Bewegung der Krieger zu analysieren. „Mein Name ist Leif,“ sagte er mit einer Stimme, die zugleich angenehm und durchdringend klang. „Ich bin ein Händler, ein Reisender. Ich komme mit Waren und Nachrichten aus dem Süden. Vielleicht findet ihr Nutzen in dem, was ich zu bieten habe.“

Hanna beobachtete ihn aus der Entfernung. Ihre Augen verengten sich, als ein seltsames Gefühl durch sie hindurchfuhr. Etwas an seiner Haltung, seiner Stimme – es erinnerte sie an etwas oder jemanden, aber die Erinnerung war wie ein Nebel, nicht greifbar.

„Wir haben keinen Bedarf an Fremden, die Unruhe stiften,“ sagte Ragnar mit einer eisigen Ruhe, doch Freydis trat näher und flüsterte ihm etwas zu. Ragnar zögerte, betrachtete Leif mit zusammengezogenen Augenbrauen und nickte dann knapp. „Du kannst im Dorf handeln, aber nur unter unseren Regeln. Jeder Verstoß wird Konsequenzen haben.“

Leif neigte leicht den Kopf, eine höfliche, aber irgendwie herausfordernde Geste. „Natürlich. Ich danke euch für eure Gastfreundschaft.“

Hannas Blick blieb auf Leif haften, als er seinen Wagen ins Dorf zog. Es war, als würde eine unsichtbare Macht sie zwingen, ihn zu beobachten. Ragnar trat an ihre Seite. „Was denkst du?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte sie leise. „Aber wir sollten wachsam bleiben.“

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Im Verlauf des Tages zog Leif die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner auf sich. Kinder drängten sich um seinen Wagen, fasziniert von den fremden Farben und Texturen der Waren, die er ausbreitete. Erwachsene beobachteten ihn mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier, während er mit einer geschickten Mischung aus Freundlichkeit und Andeutungen Gespräche führte. Hanna, die in der Nähe der kranken Kinder blieb, hielt ihn aus der Ferne im Auge.

Die Schatten in ihren Gedanken wuchsen. Ihre Behandlungen blieben ohne Erfolg, und die fiebernden Gesichter der Kinder ließen Hannas Herz schwer werden. Ihre Sorgen wurden verstärkt, als ein Dorfbewohner, der Leif zugehört hatte, zu ihr trat und murmelte: „Er hat von ähnlichen Krankheiten im Süden gehört, sagt er. Vielleicht wissen die Fremden etwas, das wir nicht wissen.“

Dieser Gedanke ließ Hanna innehalten. Leif wusste also von solchen Krankheitsfällen? Das schien kein Zufall zu sein.

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Am Abend versammelten sich die Dorfbewohner in der großen Halle. Die Stimmung war gedämpft, obwohl die Frauen und Männer versuchten, ein Gefühl von Normalität zu wahren. Leif saß in der Mitte, umgeben von neugierigen Augenpaaren, und erzählte lebhaft von Konflikten im Süden. „Die Clans dort streiten immer heftiger um Land und Ressourcen,“ erklärte er. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis diese Streitereien auch hierherziehen.“

Ragnars Stimme durchbrach die Stille. „Wir haben unsere eigenen Herausforderungen. Was bringt dich dazu, uns vor ihren Zwistigkeiten zu warnen?“

Leif hob die Hände, die Handflächen nach außen gekehrt. „Purer Eigennutz,“ sagte er mit einem schmalen Lächeln. „Handel blüht nur im Frieden. Es liegt in meinem Interesse, dass die Straßen sicher bleiben.“

Hanna lauschte, doch ihre Aufmerksamkeit lag mehr auf den Untertönen seiner Worte. Er sprach mit der geschickten Präzision eines Mannes, der wusste, wie man Vertrauen gewinnt – oder Zweifel sät.

Später, als die Halle sich leerte und die Gespräche in gedämpftem Gemurmel verklangen, näherte sich Hanna ihm. „Deine Geschichten sind beeindruckend,“ begann sie mit einem scheinbar beiläufigen Ton.

Leif sah sie an, seine Augen blitzten im Schein des Feuers. „Geschichten sind das, was uns verbindet, nicht wahr? Sie lehren uns, sie warnen uns, manchmal inspirieren sie uns.“

„Das tun sie,“ stimmte Hanna zu. „Aber die besten Geschichten sind oft die, die mehr verbergen, als sie offenbaren.“

Leif lächelte, doch in seinen Augen lag eine scharfe Wachsamkeit, als hätte er genau auf diese Worte gewartet. „Ihr seid klüger als die meisten hier, Siv,“ sagte er. „Eure Augen verraten, dass ihr mehr gesehen habt, als dieses Dorf zu bieten hat.“

Hanna spürte, wie ihre Muskeln sich anspannten, doch sie hielt ihre Stimme ruhig. „Jeder hat seine Geheimnisse. Und manche sollten verborgen bleiben.“

Leif neigte leicht den Kopf, doch das Lächeln auf seinen Lippen wirkte wie eine stillschweigende Herausforderung.

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In dieser Nacht saß Hanna lange vor der erlöschenden Glut und starrte in die Flammen. Leifs Worte hallten in ihrem Kopf wider, und jedes Detail seines Auftretens schien sich in ihrem Gedächtnis festzusetzen. Wer war er wirklich? Und warum hatte sie das unheilvolle Gefühl, dass sein Auftauchen mehr bedeutete, als sie sich eingestehen wollte?

Als das erste Licht des Morgens durch die Fenster fiel, fühlte es sich an, als hätte sie die ganze Nacht mit den Schatten gekämpft. Sie wusste, dass die Antwort nicht lange auf sich warten lassen würde – aber sie fürchtete, welchen Preis sie dafür zahlen müssten.