App herunterladen

Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Schatten aus der Vergangenheit


Ragnar

Ragnar stand am Rand des Dorfplatzes, die kalte Morgenluft schnitt ihm ins Gesicht, doch wie immer zeigte er nach außen keinerlei Regung. Seine Augen folgten Hanna, die fast mechanisch ihren Aufgaben nachging. Die klare Präzision, die sie sonst auszeichnete, war heute einer sichtbaren Zerstreutheit gewichen. Ihre Bewegungen waren fahrig, ihre Aufmerksamkeit unbeständig, und ihre Schultern schienen von einer unsichtbaren Last nach unten gedrückt zu werden. Ragnar kannte diesen Ausdruck – ein Blick, den er oft bei Kriegern gesehen hatte, die mit inneren Dämonen aus der Schlacht zurückkehrten. Doch bei Hanna lag etwas anderes darin, etwas Tieferes, Fremdes.

„Hmm,“ brummte er leise und stemmte die Hände in die Hüften. Seine Stirn zog sich in Falten. Lange genug hatte er sie beobachtet, um zu wissen, dass sie selten über ihre Sorgen sprach. Doch heute schien ihr innerer Sturm sie zu verschlingen. Sie sprach mit einem Kranken, band eine einfache Lederbinde um dessen Arm und versuchte beruhigende Worte zu finden – doch die Wärme, die ihre Stimme sonst trug, fehlte.

Ragnar ließ seinen Blick über den Platz schweifen. Eine mütterliche Gestalt trug einen Korb mit frisch geernteten Kräutern, während Kinder zwischen den Hütten umhertollten. Doch weder das alltägliche Treiben noch die klare Wintersonne konnten die ungreifbare Spannung vertreiben, die in der Luft lag. Ein leises Rascheln von Flügeln ließ ihn aufblicken, als ein einzelner Rabe von einem Dach aufstieg. Der Vogel schrie, als wolle er ihn mahnen, bevor er in Richtung Wald flog. Ragnar schüttelte den Kopf, ein schweres Gefühl im Magen. Es war Zeit, aktiv zu werden.

Mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten näherte er sich Hanna. Als sein Schatten über sie fiel, hob sie den Kopf. Ihre Augen waren klar, doch die tiefe Müdigkeit darin war unverkennbar. „Hanna,“ sagte er leise, seine Stimme wie gewohnt ruhig, aber mit einem Hauch von Nachdruck. Sie blinzelte leicht überrascht, wischte die Hände an ihrem Umhang ab und nickte. Ragnar deutete mit einem kurzen Neigen des Kopfes in Richtung des Waldrandes. Sie folgte ihm wortlos.

Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, und der Atem der beiden formte weiße Wolken in der kalten Luft. Die Bäume warfen lange Schatten über die Lichtung, als sie einige Schritte abseits des Dorfes stehen blieben. Ragnar drehte sich zu ihr um, die Hände locker an seinen Gürtel gelegt. „Was bedrückt dich?“ fragte er direkt. Seine Worte waren von der pragmatischen Art, die ihm eigen war, doch sein Blick zeigte echte Sorge.

Hanna zögerte. Ihre Augen wanderten zu den Bäumen, als suche sie dort nach Antworten. Schließlich atmete sie tief ein, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Etwas… fühlt sich falsch an.“ Sie hielt inne, als ob sie die richtigen Worte suchen müsste. „Ich träume von Dingen, die ich längst hinter mir gelassen habe. Aber diese Träume… sie sind anders. Sie fühlen sich real an, Ragnar. Als ob sie mich rufen würden.“ Ihr Blick kehrte zu ihm zurück, und Ragnar konnte die Schwere in ihren Augen spüren.

Er schwieg einen Moment, ließ ihre Worte sacken. „Träume sind manchmal nichts weiter als Schatten unserer Gedanken,“ antwortete er schließlich. „Doch ich sehe, dass es mehr ist.“ Er kannte Hanna gut genug, um zu wissen, dass sie solche Dinge nicht leichtsinnig ansprach.

Hanna griff in ihren Umhang und zog ein kleines, metallisches Objekt hervor. Es lag in ihrer Handfläche, kühl und glänzend unter der Wintersonne. Ragnar trat näher, seine Augen verengten sich. Das Objekt war glatt, makellos und zeigte Gravuren, die ihm völlig fremd waren. Seine Hand hob sich zögerlich, als wolle er es berühren, doch er hielt inne. „Was ist das?“ fragte er.

„Ich habe es gestern im Wald gefunden,“ sagte Hanna, ihre Stimme gedämpft. „Es gehört nicht hierher. Es stammt… aus meiner Welt.“ Ragnar spürte einen kalten Schauer seinen Rücken hinunterlaufen. Das Wissen um Hannas Herkunft war im Dorf bekannt, doch dies war das erste Mal, dass etwas Greifbares aus ihrer Zeit in diese Welt eingedrungen war.

„Und du glaubst, das hat mit deinen Träumen zu tun?“ fragte er. Der Ernst in seiner Stimme war unüberhörbar.

Hanna nickte, ihre Finger schlossen sich fester um das Objekt. „Es ist mehr als das. Ich spüre es, Ragnar. Etwas verändert sich. Die Grenzen zwischen den Zeiten… sie sind nicht so stabil, wie ich dachte.“ Ihre Stimme brach, und in ihrem Blick lag eine Angst, die Ragnar tief traf.

Er atmete langsam aus und richtete seinen Blick auf die schneebedeckten Hügel am Horizont. „Die Jäger haben seltsame Dinge im Wald bemerkt,“ sagte er schließlich. „Geräusche, die keine Herkunft haben. Pfade, die ins Nichts führen. Selbst die Tiere sind unruhig. Vielleicht liegt es daran.“

Hannas Blick war jetzt fester auf ihn gerichtet. „Ich glaube, es hängt alles zusammen,“ erwiderte sie leise. „Aber ich brauche mehr Zeit, um es zu prüfen.“

Ragnar nickte langsam. Seine Gedanken rasten. Die Möglichkeit, dass die Zeit selbst instabil wurde, bereitete ihm Unbehagen. Wenn das Dorf wirklich in Gefahr war, musste er handeln. „Ich werde eine Versammlung der Ältesten einberufen,“ sagte er schließlich. „Wenn etwas Großes auf uns zukommt, müssen wir vorbereitet sein.“

Zum ersten Mal an diesem Morgen entspannte sich Hannas Gesicht ein wenig. „Danke, Ragnar.“

Er zuckte nur die Schultern. „Das ist meine Pflicht,“ sagte er schlicht, doch innerlich wusste er, dass es mehr war als bloße Verantwortung. Hanna bedeutete ihm mehr, als er jemals zugeben würde.

***

Die Halle des Jarls war erfüllt von gedämpftem Gemurmel, das verstummte, als Ragnar in die Mitte trat. Die Dorfbewohner hatten sich um ihn versammelt: die Ältesten, einschließlich des nachdenklichen Olav und des skeptischen Torbjörn, sowie einige Krieger und Handwerker. Hanna stand an der Wand, die Arme verschränkt, die Schultern straff – wachsam, aber still.

Ragnar berichtete von den Beobachtungen der Jäger und den ungewöhnlichen Träumen, die ihn erreicht hatten. Er sprach auch von Omen und Veränderungen, ohne jedoch das metallische Objekt oder Hannas persönliche Träume zu erwähnen. Es war nicht der Moment, um ihre Herkunft erneut ins Zentrum zu rücken.

Olav strich sich über den weißen Bart und nickte langsam. „Die Götter sprechen zu uns, das ist sicher. Vielleicht warnen sie uns vor etwas.“

„Oder es sind Hirngespinste!“ Torbjörn verschränkte die Arme vor seiner Brust und schnaubte. „Wir vergeuden unsere Zeit mit Schauermärchen. Es gibt genug zu tun, ohne uns von Unsichtbarem ablenken zu lassen.“

„Hirngespinste?“ Freydis trat vor, ihre Stimme scharf wie eine Klinge. „Und wenn es mehr ist? Willst du warten, bis die Gefahr vor unserer Tür steht?“ Ihr Blick ließ Torbjörn keine Wahl, als widerwillig zu schweigen.

Ragnar hob die Hand, seine Stimme schnitt durch die aufkommenden Diskussionen. „Es spielt keine Rolle, ob wir glauben, dass die Zeichen von den Göttern kommen oder nicht. Was zählt, ist, vorbereitet zu sein.“ Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.

Er befahl, die Patrouillen zu verstärken und Späher auszusenden, um den Wald zu überwachen. Freydis nickte zustimmend, während Torbjörn nur mürrisch brummte. Die Versammlung löste sich langsam auf, doch die Sorge blieb in der Luft hängen.

Ragnar trat zu Hanna, die noch immer an der Wand stand, und sprach leise: „Wir werden bald mehr wissen.“ Sie nickte, doch ihre Augen blieben auf den schattigen Wald gerichtet. Ragnar wusste, dass die Antworten, die sie suchten, nicht leicht zu finden sein würden. Doch er war sicher: Was auch immer kam, sie würden gemeinsam dagegenstehen.