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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Verlorene Ankunft


Hanna/Siv

Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen, ihre letzten Strahlen warfen ein warmes, goldenes Licht auf die schneebedeckten Äste und ließen die Eiskristalle wie ein fein gewebtes Netz aus Silber schimmern. Der Wald war still, zu still, als hielte er den Atem an. Hanna zog ihren Umhang enger um die Schultern, während die Kälte in ihre Wangen schnitt. Das Knirschen ihrer Schritte auf dem frisch gefallenen Schnee hallte wie ein leises Echo zwischen den Bäumen wider.

Sie war tiefer in den Wald vorgedrungen als gewöhnlich. Die Kräuter, nach denen sie suchte, wuchsen nur in entlegenen, schattigen Bereichen, weit entfernt vom Dorf. Zudem hoffte sie, dass die Bewegung ihre Gedanken ordnen würde. Doch die Worte, die sie Ragnar gesagt hatte, hallten nach wie ein Trommelschlag: *Die Grenzen zwischen den Zeiten sind instabil.* Der Fund des seltsamen Objekts hatte diese Wahrheit unwiderruflich bewiesen. Tief in ihrem Inneren wünschte sie dennoch, dass sie sich irrte.

Während sie sich bückte, um die letzten Kräuter zu pflücken, ließ sie ihren Blick über die Schatten der Bäume gleiten. Die Welt schien reglos, doch ein Gefühl der Unruhe begann in ihr zu wachsen, als ob der Wald selbst etwas verbergen wollte. Sie richtete sich auf und lauschte. Ein Geräusch – leise, kaum mehr als ein Hauch – ließ sie innehalten. Es war kein gewöhnliches Rascheln der Blätter, kein Wind, der durch die Äste strich. Es klang… menschlich.

Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken, doch sie zwang sich zur Ruhe. Ihre Hand glitt unwillkürlich zum Griff ihres Dolches, und sie bewegte sich vorsichtig, ohne ein weiteres Geräusch zu verursachen, in die Richtung, aus der das Laut kam. Ihre Schritte waren langsam, bedacht, und das Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln schien lauter als je zuvor.

Hinter einem niedrigen Hügel, halb verborgen von einer Schneewehe, entdeckte sie eine Gestalt. Zusammengekauert und zitternd lag sie am Boden, ihr Gesicht in den Händen vergraben. Hanna hielt den Atem an. Die Kleidung der fremden Person fiel ihr sofort ins Auge – Jeans, ein T-Shirt, ein Rucksack mit reflektierenden Streifen. Es passte nicht in diese Welt, und doch war es wie ein schmerzhafter Stich der Vertrautheit, der sie an ihre eigene Ankunft erinnerte.

Hanna schluckte schwer und trat einen Schritt näher. „Hey,“ sagte sie leise, ihre Stimme bewusst sanft, aber fest. Die Gestalt zuckte zusammen und hob den Kopf. Eine junge Frau, nicht älter als Mitte zwanzig, blickte sie mit weit aufgerissenen, panischen Augen an. Ihre Wangen waren blass, fast schon blau von der Kälte. Sie sah Hanna an, als wäre sie ein Geist.

„Wo… wo bin ich?“ Die Worte kamen heiser, in Englisch, und brachen fast in der Mitte ab. Die Stimme der Frau war rau, als hätte sie geschrien oder geweint. Hanna fühlte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Es war, als würde sie sich selbst vor Jahren in dieser Frau sehen – verloren, verängstigt und in eine Welt geschleudert, die nicht die ihre war.

„Beruhigen Sie sich,“ antwortete Hanna schließlich auf Englisch. Die fremden Worte fühlten sich seltsam an, unpassend in dieser uralten Umgebung. Sie kniete sich langsam hin, um nicht bedrohlich zu wirken, und hielt einen gleichmäßigen Ton. „Sie sind in Sicherheit. Ich weiß, das klingt seltsam, aber Sie sind nicht allein.“ Sie streckte eine Hand aus, vorsichtig, wie um ein scheues Tier nicht zu erschrecken.

Die junge Frau zuckte zurück, als hätte sie Angst, doch nach einem kurzen Moment ergriff sie Hannas Hand. Ihre Finger waren eiskalt und zitterten. „Emily,“ murmelte sie, ihre Stimme schwach. „Mein Name ist Emily.“

„Emily,“ wiederholte Hanna mit einem beruhigenden Nicken. „Ich bin Hanna. Wir schaffen das zusammen, okay? Aber wir müssen von hier weg. Können Sie aufstehen?“ Sie hielt Emilys Hand fest, half ihr auf die Beine. Die junge Frau stolperte, doch Hanna hielt sie stabil. Emilys Augen waren glasig, und sie schien sich nur mit Mühe aufrechtzuhalten, aber sie nickte.

„Bleiben Sie dicht bei mir und seien Sie leise,“ sagte Hanna, ihre Stimme plötzlich von einer Dringlichkeit gefärbt. Der Wald fühlte sich seltsam an – als ob tausend unsichtbare Augen sie beobachteten. Sie führte Emily vorsichtig hinaus, beide so leise wie möglich. Die Stille des Waldes war drückend, jedes Knirschen ihrer Schuhe schien wie ein Schrei durch die Luft zu hallen.

Als die ersten Umrisse von Skjoldheim zwischen den Bäumen auftauchten, atmete Hanna erleichtert aus. Doch ihre Erleichterung währte nur kurz. Sie durfte kein Risiko eingehen. Statt den Hauptweg zu nehmen, führte sie Emily durch die schmalen, versteckten Gassen am Rand des Dorfes. Einmal glaubte sie, Schritte zu hören, und zog Emily schnell in den Schatten einer Hütte, bis die Gefahr vorüber war. Jedes Geräusch ließ sie zusammenzucken, ihr Herz raste.

Schließlich erreichten sie ihre kleine Hütte. Hanna schob Emily hinein und schloss die Tür hinter sich. „Setzen Sie sich,“ wies sie sie an und deutete auf einen Hocker. Emily ließ sich darauf fallen, ihre Hände umklammerten die Träger ihres Rucksacks, und ihre Augen huschten durch den Raum.

„Ist das… ein Wikingerdorf?“ fragte Emily, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Sie sah aus, als hätte sie Mühe, die Realität um sich herum zu begreifen.

Hanna nickte. „Ja. Aber hören Sie zu, Emily – ich weiß, dass das alles überwältigend ist. Ich weiß, wie es sich anfühlt, hierherzukommen und alles verloren zu fühlen.“ Sie legte eine Hand auf Emilys Schulter, ihre Stimme sanft, aber bestimmt. „Ich verspreche Ihnen, wir finden einen Weg, das zu verstehen.“

Emily starrte sie an, noch immer zitternd, ihre Augen voller Fragen. „Wie… wie sind Sie hierhergekommen?“ flüsterte sie schließlich.

Hanna zögerte, bevor sie antwortete. „Durch ein Amulett. Es hat mich hierhergebracht – genau wie es Sie hierhergebracht haben muss.“

Emily riss hektisch ihren Rucksack auf und kramte darin. Schließlich zog sie ein goldenes Objekt hervor, das in dem schwachen Licht der Hütte schimmerte. Hannas Atem stockte. Es war anders als ihr eigenes Amulett, aber die Gravuren und die fremde Energie, die es ausstrahlte, waren unverkennbar.

„Das habe ich im Museum gefunden,“ murmelte Emily. „Ich habe es berührt, und dann… war ich hier.“

Hanna nahm das Amulett vorsichtig in die Hand. Die kühle Oberfläche schien zu vibrieren, fast wie ein lebendiger Puls. Ein durchdringendes Gefühl der Unruhe überkam sie. Die Risse, die sie zu schließen geglaubt hatte, waren nicht nur offen – sie wurden größer.

„Emily,“ begann sie, während sie das Amulett betrachtete, „das hier ist ein Teil von etwas, das ich nur schwer erklären kann. Aber es bedeutet, dass die Grenze zwischen den Zeiten instabil ist. Sie sind ein weiteres Puzzlestück in etwas, das…“ Sie hielt inne. Die Verantwortung lastete schwer auf ihr.

„Bin ich in Gefahr?“ fragte Emily mit zitternder Stimme.

Hanna wollte lügen, doch sie konnte es nicht. „Im Moment sind Sie hier sicher. Aber wir dürfen niemandem davon erzählen. Zumindest noch nicht.“

Der Abend senkte sich über das Dorf, und Emily war bald zu erschöpft, um wach zu bleiben. Hanna blieb wach, saß am Tisch und betrachtete das Amulett, dessen schwaches Glühen die Schatten der Hütte zum Tanzen brachte. Ihre Gedanken kreisten um die Verantwortung, die sie nun erneut tragen musste. Was auch immer auf sie zukam, sie wusste eines sicher: Sie würde bereit sein.