Kapitel 3 — Der Gelehrte aus der Zukunft
Der Gelehrte
Das Geräusch eines einzelnen Tropfens hallte durch die Stille der verlassenen Bibliothek. Markus saß auf einem massiven Holzstuhl, der unter seinem Gewicht nicht einmal knarrte, als ob er seit Jahrhunderten an diesem Ort verweilte. Der Raum war erfüllt vom Geruch alter Bücher, Staub und der feuchten, metallischen Note, die durch die Ritzen der hohen Fenster hereinwehte. Auf dem Tisch vor ihm lag ein uraltes Manuskript, das von einer präzisen, altertümlichen Hand geschrieben worden war. Seine Augen brannten vor Anstrengung, aber er konnte nicht aufhören zu lesen.
„... eine Frau, die zwischen den Zeiten wandelt. Ihre Augen, die das Wissen der Zukunft tragen, sind ein Segen und ein Fluch zugleich. In ihrem Griff liegt die Macht, den Fluss der Geschichte selbst zu beeinflussen.“
Markus lehnte sich zurück, die Worte hallten in seinem Kopf wider. Seine Hände, die das Pergament hielten, zitterten leicht. Zum ersten Mal fühlte sich die Theorie, die ihn seit Jahren verfolgte, greifbar an – mehr als nur eine Idee oder eine Obsession. Es war real. Die Zeit war kein unveränderliches Kontinuum, wie die meisten glaubten. Sie war ein lebendiges, atmendes Geflecht, das gebogen, geformt und – wenn man es verstand – beherrscht werden konnte.
Sein Blick fiel auf die Notizen, die er auf einem Block neben sich gemacht hatte. Diagramme, Beobachtungen, Verbindungen zwischen Anomalien. Die Beschreibung im Manuskript passte zu seinen Ergebnissen: rätselhafte Veränderungen in historischen Ereignissen, scheinbar unmögliche Muster in Artefakten und Berichte über eine Frau, die zu verschiedenen Zeiten und Orten gleichzeitig existiert haben soll. Diese Frau. Hanna. Siv.
Er blätterte zum nächsten Abschnitt des Manuskripts und hielt bei einer Zeichnung inne, die ihn erschaudern ließ. Der Kohleentwurf zeigte einen Steinkreis, dessen Steine eine unheimliche Energie ausstrahlten, selbst durch die groben Linien hindurch. Darunter stand eine Notiz, die ihm zugleich Ehrfurcht und Unruhe einflößte:
„Der Kreis ist das Tor, und sie ist der Schlüssel.“
Langsam legte Markus das Manuskript beiseite und ging zum Fenster, dessen Glas von einer dünnen Schicht Feuchtigkeit überzogen war. Mit einem Finger zog er eine Linie durch den Dunst und blickte hinaus auf die Lichter der Stadt, die wie heruntergefallene Sterne funkelten. Seine Gedanken kreisten um die Bedeutung der Worte. War es möglich, dass diese Frau, diese Siv, nicht nur die Brücke zwischen den Zeiten war, sondern auch das fehlende Glied, um die Zeit selbst zu kontrollieren? Eine Macht, von der er immer geträumt hatte.
Sein Blick wanderte zu dem Tisch, auf dem ein Amulett lag. Oder vielmehr, was er aus Fragmenten und Berichten rekonstruiert hatte. Das Original war verloren, aber seine Forschung hatte ihn so weit gebracht, das Design zu vervollständigen. Die Runen, die in das Metall graviert waren, schienen im schummrigen Licht schwach zu glühen. Als er das Amulett aufhob, vibrierte es leicht unter seinen Fingern – ein Puls, der kaum spürbar war, wie das Herz eines schlafenden Wesens.
„Wenn sie der Schlüssel ist“, murmelte er, „dann brauche ich sie, um das Tor zu öffnen.“
Doch eine andere Stimme in seinem Kopf meldete sich, leise, aber drängend: Sollte er das tun? Hatte er das Recht, die Geschichte zu verändern? Er schloss die Augen und verdrängte diese Zweifel. Die Menschheitsgeschichte war ein chaotisches Durcheinander aus Fehlern, Zufällen und Tragödien. Nur jemand mit seinem Wissen und Weitblick konnte sie korrigieren. Mit einem Seufzen griff er nach seinem Notizbuch und begann, seine Gedanken und Pläne festzuhalten. Jede Variable, jeder mögliche Widerstand – alles musste berücksichtigt werden.
Während er schrieb, kehrten Erinnerungen an die langen Jahre seiner Forschung zurück. Die Nächte, die er damit verbracht hatte, in den Tiefen von Bibliotheken und Archiven nach Hinweisen zu suchen. Die skeptischen, manchmal spöttischen Bemerkungen seiner Kollegen, die seinen Ehrgeiz als Größenwahn abgetan hatten. Doch all das trieb ihn nur weiter an. Die Welt, so wie sie war, hatte ihn enttäuscht. Und er würde die Mittel finden, sie nach seinem Willen zu formen.
***
Später an diesem Abend betrat Markus das Zentrum seiner Forschung: ein unterirdisches Labor, verborgen vor den Augen der Welt. Maschinen summten leise, kleine Lichter blinkten in rhythmischen Intervallen. In der Mitte des Raums stand ein kreisförmiges Gerät, das er „Die Brücke“ nannte. Die Struktur aus glänzendem Metall war mit denselben Runen verziert wie das Amulett. Sie war das Ergebnis jahrelanger Forschung und ebenso vieler Fehlschläge. Doch nun, mit dem Amulett in der Hand, war er bereit, den nächsten Schritt zu wagen.
Er betrachtete das Gerät und berührte eine der Runen, die kalt und glatt unter seinen Fingern lag. Die Technik, die er genutzt hatte, um diese Maschine zu bauen, war ein Hybrid aus moderner Wissenschaft und archaischen Symbolen. Er hatte sich an die alten Mythen und Manuskripte gehalten, die von der Kraft der Runen berichteten, und sie mit seinem Wissen über Energiequellen verbunden. Es war nicht nur Wissenschaft – es war auch eine Art Glaube.
Markus zog seinen Laborkittel aus und legte ihn sorgfältig zusammen. Darunter trug er robuste Kleidung aus Leinen und Leder, die er speziell für diese Reise angefertigt hatte. Authentisch genug, um in der Wikingerzeit nicht aufzufallen, aber mit versteckten Merkmalen, die seine moderne Herkunft verrieten. Schließlich war Vorsicht geboten.
Mit einem tiefen Atemzug trat er an die Brücke heran. Er platzierte das Amulett in die Aussparung in der Mitte des Geräts und tippte eine Reihe von Befehlen in das Bedienfeld. Die Runen begannen zu leuchten, ein tiefes, warmes Licht, das die Wände des Labors in ein pulsierendes Muster tauchte. Ein leises Summen füllte die Luft, gefolgt von einem elektrischen Knistern, das seine Haut prickeln ließ. Die Maschinen um ihn herum summten lauter, und in der Mitte der Brücke begann sich ein leuchtender Riss zu formen – ein Spalt in der Realität, der vor Energie bebte.
Für einen Moment zögerte Markus. Der Riss schien lebendig, als ob etwas darin pulsierte, das mehr war als bloße Energie. Was, wenn er einen Fehler gemacht hatte? Was, wenn die Brücke ihn nicht in die Vergangenheit brachte, sondern irgendwohin, wo er nicht zurückkehren konnte? Seine Finger zuckten, als wollten sie den Prozess abbrechen.
Doch dann schüttelte er den Kopf. „Die größten Entdeckungen erfordern Mut“, flüsterte er sich selbst zu. Mit einem letzten Blick auf die moderne Welt, die er hinter sich ließ, trat er in den Riss.
***
Kälte und Hitze wechselten einander ab, und für einen Moment fühlte Markus, wie jede Zelle seines Körpers gleichzeitig auseinandergerissen und wieder zusammengesetzt wurde. Das Licht um ihn herum war grell, blendend, bevor es plötzlich verschwand. Er stand auf festem Boden.
Die Luft war anders – klarer, frischer, schwer von Erde und Harz. Um ihn herum ragten uralte Bäume auf, und in der Ferne hörte er das donnernde Rauschen von Wellen, die gegen Felsen schlugen. Langsam hob er den Blick und sah den Himmel, der in einem tiefen Grau lag, durchzogen von Wolken, die wie Rauch aussahen.
Markus atmete tief ein. Ein Moment der Ehrfurcht überkam ihn, gemischt mit einem Gefühl triumphaler Erfüllung. Er hatte es geschafft. Er war in der Vergangenheit. Doch seine Gedanken hielten nicht lange inne. Er wusste, dass dies nur der Anfang war. Die eigentliche Arbeit begann jetzt. Hanna – Siv – war irgendwo hier, und sie war der Schlüssel zu allem.
Er richtete sich auf, strich sich den Staub von den Händen und zog die Kapuze seines Mantels über. „Jetzt beginnt die wahre Arbeit“, murmelte er, bevor er entschlossen in die Richtung ging, in der er das Dorf vermutete.