Kapitel 2 — Schatten aus der Vergangenheit
Matteo Richter
Das Flackern der Neonlampe in Matteos winziger Küche wirft zuckende Schatten an die Wände. Er steht am Fenster, eine Tasse schwarzen Kaffees in der Hand, doch die Flüssigkeit ist längst kalt. Seine Augen verfolgen das Leben draußen – den ratternden Müllwagen, der durch die engen Straßen rumpelt, und die Kinder, die trotz des feuchten Herbstmorgens mit einem Ball zwischen den parkenden Autos spielen. Die Geräusche der Nachbarschaft dringen durch das gekippte Fenster herein, doch Matteo fühlt sich davon abgekoppelt, wie ein Fremdkörper, der hier nicht mehr hingehört.
Sein Blick wandert zur Aktenmappe, die auf dem kleinen Küchentisch liegt. Noch verschlossen, wie eine Mahnung. Er spürt, wie sie ihn anzieht und gleichzeitig abstößt. Die Worte des Anwalts – „Das Erbe Ihres Vaters“ – hallen immer wieder in seinem Kopf wider, wie ein Echo in einer endlosen Schlucht. Er fragt sich, wie es so weit kommen konnte. Warum jetzt? Was wollte sein Vater wirklich von ihm? Und warum musste dabei all das wieder hochkommen, was Matteo längst begraben glaubte?
Er streicht mit einer Hand über das zerkratze Holz des Tisches, bevor seine Finger den Verschluss der Mappe berühren. Sie zögern. Ein leises Klicken, und die Mappe ist geöffnet. Die Dokumente darin sind ordentlich geordnet, makellos. Verträge, Finanzberichte, ein Foto des Richter Towers – imposant und kalt. Die sterile Perfektion dieser Welt ist ihm fremd, ein Spiegel seines Vaters, den er nie verstand. Matteos Blick bleibt an einem handgeschriebenen Brief haften, der am Rand steckt. Er hebt ihn an, doch seine Finger zittern, und er legt ihn zurück, ungeöffnet. Noch nicht.
Mit einem Seufzen klappt er die Mappe zu und schiebt sie von sich weg. Seine Brust fühlt sich schwer an, als würde sie von einer Last erdrückt, die mit dem gestrigen Tag über ihn hereingebrochen ist. Schließlich greift er nach seiner Jacke, öffnet die Tür und verlässt die Wohnung. Die kühle Luft schlägt ihm ins Gesicht, als er die Treppe hinuntergeht und auf die Straßen tritt.
Der Himmel ist grau, droht mit Regen, doch Matteo zieht es vor, zu Fuß zu gehen. Der vertraute Druck seiner Stiefel auf dem nassen Pflaster gibt ihm Halt. Ohne Ziel wandert er durch die Straßen des Viertels, in dem er aufgewachsen ist. Die heruntergekommenen Gebäude, die mit Graffiti bedeckten Betonwände, die Risse im Asphalt – alles ist gleich geblieben. Matteo schiebt die Hände tief in die Taschen seiner Jacke, während seine Gedanken unruhig kreisen. Fast unbemerkt führen ihn seine Schritte tiefer in das Viertel, bis er vor einem Ort steht, den er seit Jahren gemieden hat.
Der verlassene Hinterhof breitet sich vor ihm aus, eingefasst von grauen Betonwänden, die von Zeit und Wetter gezeichnet sind. Schmierereien, die einst frisch und trotzig wirkten, sind verblasst und rissig. Der Boden ist mit zerbrochenem Glas und Müll übersät, und die Luft riecht nach Feuchtigkeit und Verfall. Matteo tritt ein, seine Schritte hallen in der Stille wider. Seine Augen wandern über den Ort, der einst sein Jugendtreffpunkt war. Hier hatte er sich mit Freunden getroffen, Pläne geschmiedet. Hier hatte er sich sicher gefühlt – zumindest für eine Weile.
Langsam geht er zu einer Ecke des Hofes, die ihm noch immer seltsam vertraut erscheint. Seine Hand gleitet über die raue Wand, bis sie auf eine lose Metallplatte trifft. Eine kleine Nische im Beton, ein Versteck, das sie damals genutzt hatten. Matteo zieht die Platte vorsichtig heraus. Mit einem leichten Knirschen gibt sie nach, und dahinter kommt ein kleines Metallkästchen zum Vorschein.
Er setzt sich auf den Boden, den Rücken gegen die kalte Wand gelehnt, und öffnet das Kästchen. Der Inhalt ist sorgfältig verstaut: eine zerknitterte Fotografie seiner Mutter, ein paar Münzen und ein rostiger Schlüssel. Matteo greift nach dem Foto. Das Lächeln seiner Mutter wirkt so lebendig, als könnte sie ihn aus diesem Bild heraus erreichen. Er streicht mit dem Daumen über ihr Gesicht, und die Erinnerung an ihre Stimme, ihre Wärme, trifft ihn wie ein Schlag. Sie hatte immer versucht, ihm Hoffnung zu geben, selbst in den dunkelsten Zeiten. „Was würdest du tun, Mama?“, flüstert er, doch die Luft bleibt stumm.
Das Krachen von Schritten reißt ihn aus seinen Gedanken. Matteo blickt auf und sieht, wie ein Mann am Eingang des Hofes steht. Seine Silhouette ist vertraut, doch die Jahre haben seine Züge verhärtet. Es ist Lukas. Ein alter Bekannter aus seiner Jugend, jemand, dessen Gesicht er vergessen wollte. Die Spannung in Matteos Brust schnürt ihm den Atem ab.
„Matteo“, sagt Lukas grinsend, während er näher tritt. „Was für ein Wiedersehen.“
Matteo verstaut das Foto hastig im Kästchen und schließt es. „Lukas“, erwidert er kühl. „Was machst du hier?“
„Ich könnte dich dasselbe fragen“, sagt Lukas und bleibt ein paar Schritte entfernt stehen. „Ich hab gehört, du bist jetzt ein großer Mann. CEO und so. Herzlichen Glückwunsch.“
„Was willst du?“ Matteos Stimme ist ruhig, doch seine Hände ballen sich zu Fäusten.
„Ach, komm schon.“ Lukas lehnt sich an die Wand und zündet sich eine Zigarette an. Sein Ton ist lässig, doch seine Augen mustern Matteo scharf. „Ich hab gehört, dein Name geht gerade ziemlich herum. Dachte, ich schau mal vorbei, bevor du uns komplett vergisst.“
Matteo verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich habe nichts mit dir zu besprechen.“
„Bist du sicher?“ Lukas bläst den Rauch in die kühle Luft. „Weißt du, es gibt Leute, die sich an Dinge erinnern. Geschichten. Dinge, die vielleicht nicht so gut zu deinem neuen Leben passen.“
Ein stechendes Gefühl kriecht Matteos Nacken hinauf. „Wenn du glaubst, mich zu erpressen, liegst du falsch.“
Lukas’ Lächeln breitet sich langsam aus, doch es erreicht seine Augen nicht. „Erpressen? Das ist ein hartes Wort. Ich denke eher an… Unterstützung. Alte Freunde sollten sich doch gegenseitig helfen, oder?“
Matteo macht einen Schritt nach vorne, seine Haltung angespannt. „Du bist kein Freund, Lukas. Und wenn du glaubst, dass du mir drohen kannst, irrst du dich.“
Für einen Moment ist die Spannung greifbar, wie ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Schließlich lässt Lukas die Zigarette fallen und zertritt sie mit dem Absatz. „Denk drüber nach, Matteo“, sagt er leise. „Ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder.“
Ohne ein weiteres Wort dreht Lukas sich um und verschwindet aus dem Hof. Matteo bleibt zurück, das Metallkästchen fest umklammert. Seine Gedanken wirbeln, überschlagen sich, während die Bedrohung von Lukas’ Worten nachhallt. Was wusste er? Und wie viel Schaden könnte er anrichten?
Nach einer Weile steht Matteo auf, den Rücken steif, und verlässt den Hinterhof. Die vertrauten Straßen wirken fremd, als er sie durchquert. Ein seltsames Gefühl kriecht über seinen Rücken, als würde ihn jemand beobachten, doch er wagt es nicht, sich umzudrehen. Schließlich erreicht er seine Wohnung.
Drinnen knallt er das Kästchen auf den Tisch, öffnet es und nimmt das Foto seiner Mutter erneut heraus. Die Linien ihres Gesichts wirken weniger klar, als würde er sie mit jedem Blick ein Stück mehr verlieren. „Was würdest du tun?“, murmelt er wieder, doch die Antwort bleibt aus.
Die Mappe des Anwalts liegt noch immer auf dem Tisch, eine stumme Mahnung. Matteo lehnt sich zurück, schließt die Augen und atmet tief durch. Vor ihm liegt eine Entscheidung, die er nicht länger verdrängen kann. Doch zuerst muss er sich mit den Schatten auseinandersetzen, die ihn seit Jahren verfolgen.