reader.chapter — Schatten der Vergangenheit
Selina
Die Wohnung war still, bis auf das leise Ticken der Wanduhr, das jeden Moment in Selinas Kopf zu verstärken schien. Draußen klopfte ein sanfter Regen gegen die Fenster, ein beruhigender, aber gleichzeitig melancholischer Rhythmus, der perfekt zu ihrer inneren Zerrissenheit passte. Eine halb ausgetrunkene Tasse Tee stand auf dem Couchtisch neben einem zerknitterten Kissen, und die cremefarbene Einladung lag direkt daneben – eine stumme Provokation, die sie nicht ignorieren konnte.
Selina ging zum Fenster und blickte hinaus auf die verschwommene Stadtlandschaft. Die Lichter der Straßenlaternen spiegelten sich in den unzähligen Pfützen wider, während die Dunkelheit wie ein schwerer Vorhang herabsank. Es war, als würde die Welt um sie ihre Gedanken widerspiegeln – vernebelt, unklar, doch voller unterschwelliger Energie.
Ihr Blick wanderte zurück zur Einladung, die auf dem Tisch lag. Der feine Duft von Sandelholz stieg in ihre Nase und ließ ihre Finger kribbeln, als sie sich zwang, sich wieder davon abzuwenden. Sie ließ sich auf das weiche, abgenutzte Sofa sinken. Neben ihr lag eine kleine Schachtel, deren Deckel halb geöffnet war. Darin befanden sich alte Fotos, einige Notizen und ein silbernes Armband, das sie seit Jahren nicht mehr angerührt hatte.
Langsam griff sie nach einem der Fotos – es zeigte sie selbst, lächelnd, jung, und an ihrer Seite Damien mit diesem unverschämt charmanten Lächeln, das sie einst so leichtgläubig gemacht hatte. Seine eisgrauen Augen, die damals so faszinierend gewesen waren, schienen jetzt durch das Foto hindurchzudringen, kalt und unergründlich.
Ein leises Zittern durchlief ihre Hand, und sie legte das Foto zurück in die Schachtel. Wie lange war es her, dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte? Vier Jahre? Fünf? Zeit hatte die Wunden nicht geheilt; sie hatte sie nur tiefer eingegraben. Die Erinnerungen waren wie Scherben, die immer wieder aufblitzten, egal wie sehr sie versuchte, sie zu ignorieren.
Selinas Blick wanderte über die anderen Fotos. Da war eines von ihrem alten Büro, ihrem Schreibtisch, überladen mit Notizen und Kaffeetassen, die einst von ihrem hektischen, aber erfüllten Leben als Journalistin erzählten. Die Erinnerung an diese Tage traf sie wie ein Stich. Sie hatte alles verloren – ihre Karriere, den Respekt ihrer Kollegen, ihre eigene Identität. Und das alles wegen ihm. Wegen Damien Blackwood.
Sie seufzte schwer und schloss die Augen. Es war nicht nur die Karriere. Nein, es war viel mehr gewesen. Ihre ganze Welt hatte sich um ihn gedreht, damals. Er war wie ein Magnet gewesen, unwiderstehlich, gefährlich und unberechenbar. Und sie, dumm und naiv, war ihm immer wieder verfallen.
Doch der Bruch war endgültig gewesen. Der Skandal hatte alles zerstört. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie in die Redaktion gerufen wurde, nur um zu erfahren, dass ihre große Enthüllungsgeschichte – die Geschichte, die ihre Karriere hätte festigen sollen – über Nacht verschwunden war. Damien hatte ihre Quellen gekauft, ihre Beweise vernichtet. Und als sie ihn zur Rede stellte, hatte er sie nur angesehen, mit diesen kalten, durchdringenden Augen, und gesagt: „Das war notwendig, Selina. Du verstehst es nicht jetzt, aber eines Tages wirst du es tun.“
„Notwendig.“ Das Wort schmeckte immer noch bitter auf ihrer Zunge. Es hatte sich nicht notwendig angefühlt. Es hatte sich wie Verrat angefühlt.
Selina öffnete die Schachtel erneut und nahm das silberne Armband heraus. Es war ein Geschenk von Damien gewesen, zu ihrem ersten Jahrestag. Er hatte es ihr in einer privaten Suite in einem der luxuriösesten Hotels der Stadt überreicht, mit einem Glas Champagner in der Hand und einem Blick, der ihr das Gefühl gegeben hatte, die einzige Frau auf der Welt zu sein. Damals hatte sie geglaubt, dass ihre Liebe alles überstehen könnte. Wie töricht sie doch gewesen war.
Sie legte das Armband zurück und schloss die Schachtel mit einem lauten Klicken. Ihre Finger verharrten auf dem Deckel, als wollte sie die Erinnerungen einsperren, sie für immer wegschließen. Aber sie wusste, dass das nicht möglich war.
Sie griff erneut zu dem Foto mit Damien, hielt es länger als zuvor und ließ ihren Blick über sein Lächeln wandern. Einen Moment lang schob sie es zur Einladung auf dem Tisch hinüber, als würde sie unbewusst die Verbindung suchen. Doch dann schüttelte sie den Kopf, zog das Foto zurück und schob es unter die anderen Bilder, als wollte sie den Blick in die Vergangenheit begraben.
Die Einladung jedoch zog ihren Blick wie ein Magnet wieder an. Selina biss sich auf die Lippe und griff schließlich danach. Sie hielt das Papier in den Händen, spürte die Textur, die Eleganz der Schrift, die sie gleichzeitig faszinierte und abstoßend fand.
„Ein exklusiver Abend in der Villa Blackwood“, murmelte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Die Worte hallten in ihrem Kopf wider, als ob sie eine Tür öffneten, die sie nie wieder schließen könnte.
Warum konnte sie nicht einfach loslassen? Isabelle hatte recht, natürlich hatte sie das. Damien war gefährlich, manipulierend und absolut selbstsüchtig. Doch es gab etwas, das Selina wie ein Fluch an ihn band: die unbeantworteten Fragen. Warum hatte er sie damals so verraten? Warum hatte er ihre Karriere ruiniert, obwohl er wusste, wie sehr sie ihr Leben dafür geopfert hatte? Und vor allem – was war die wahre Absicht hinter dieser Einladung?
Ihr Handy vibrierte plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken. Es war eine Nachricht von Isabelle: „Selina, bitte denk nochmal darüber nach. Ruf mich an, wenn du reden möchtest. Ich mache mir Sorgen.“
Selina starrte auf die Worte. Isabelle war die einzige Konstante in den letzten Jahren gewesen, die einzige Person, die sie wirklich zu verstehen schien. Doch in diesem Moment fragte sie sich, ob Isabelle wirklich begreifen konnte, welche Schatten Damien über sie warf. Sie wollte Isabelle antworten, wollte ihr versichern, dass sie die richtige Entscheidung treffen würde, doch die Wahrheit war, dass sie selbst nicht wusste, was richtig war.
Selina legte das Handy beiseite und lehnte sich zurück. Ihr Blick wanderte zur Decke, wo das schwache Licht der Lampe Schatten über die altmodischen Stuckverzierungen warf. Damien war wie ein Schatten in ihrem Leben, immer präsent, immer lauernd. Vielleicht war diese Einladung ihre einzige Chance, diesen Schatten zu vertreiben – oder ihm endgültig zu erliegen.
Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf, bis sie schließlich erschöpft die Augen schloss. Doch selbst im Dunkel ihrer geschlossenen Lider sah sie noch immer sein Gesicht vor sich. Die eisgrauen Augen, die sie einst in ihren Bann gezogen hatten, das Lächeln, das gleichzeitig beruhigend und bedrohlich gewesen war.
„Ein Abend“, flüsterte sie zu sich selbst, als versuchte sie, das Gewicht ihrer Entscheidung zu verringern. „Nur ein Abend.“
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es nie nur ein Abend sein würde. Die Villa Blackwood war mehr als nur ein Ort. Sie war eine Bühne, ein Labyrinth, ein Ort, an dem Wahrheit und Lüge miteinander verstrickt waren. Und Damien war der Puppenspieler, der die Fäden zog.
Die Uhr tickte weiter, und der Regen prasselte sanft gegen die Fenster. Kurz vor dem Morgengrauen, als der Regen endlich aufhörte, stand sie auf und schrieb Isabelle eine letzte Nachricht: „Ich werde vorsichtig sein. Versprochen.“
Die Sonne begann sich langsam ihren Weg durch die Wolken zu bahnen, doch in Selinas Herz war es noch immer Nacht.